Samstag, 31. Dezember 2016

Blick nach vorn

Einen Jahresrückblick zu schreiben fällt in diesem Jahr nicht leicht. Am liebsten hätte ich mich auch davor gedrückt. Im Laufe dieses Jahres kamen die Terroranschläge immer näher, selbst die Stadt, in deren Nähe ich wohne, blieb nicht ganz davon verschont. Eine junge Frau entging nur knapp der Vergewaltigung durch einen Asylbewerber. Es gab verheerende Kriege, Überschwemmungen, Hitzewellen, den Brexit und immer wieder die Flüchtlingsfrage.

Persönlich war es kein schlechtes Jahr für mich. Ich konnte endlich einmal meine Autorenkollegen von Montsegur in Oberursel kennenlernen. Als neugebackene Rentnerin bin ich richtig angekommen. Seit Mitte Oktober machten meine Oberarme Probleme, das zwang mich dazu, mein Selbstausbeutungsverhalten am Computer usw. neu zu überdenken und meine Lebensweise zu korrigieren. Der neue Roman ist geschrieben bis auf den Schluss. Es gab viele schöne Erlebnisse und Begegnungen in diesem Jahr 2016.

Das neue Jahr wird nicht besser werden als das alte. Der ganze Problemkomplex wird überschwappen in die nächsten Monate. Aber jeder kann seine Haltung dazu ändern. Auch andere hatten und haben sich dazu Gedanken gemacht. Hölderlin schrieb in einem seiner epischen Gedichte: Wo aber Gefahr ist, wächste das Rettende auch. Das hat etwas immerwährend Tröstliches, auch wenn es vielleicht in einem anderen Zusammenhang gemeint war. Reinhold Messmer, so las ich heute in der Zeitung, geht nie einkaufen, er kümmert sich nur noch um seine Museen. Ein paar Gedanken steuert auch der Psychologe Robert Koch-Wichmann bei, der uns zeigt, wie wenig selbstverständlich eigentlich alle täglichen Ereignisse und Errungenschaften sind: Nichts ist selbstverständlich. 
Ich wünsche allen Leser einen guten Übergang und die richtigen Entscheidungen im nächsten Jahr!

Samstag, 24. Dezember 2016

Weihnachten


Es treibt der Wind im Winterwalde
die Flockenherde wie ein Hirt
und manche Tanne ahnt wie balde
sie fromm und lichterheilig wird.
Und lauscht hinaus: den weißen Wegen
streckt sie die Zweige hin - bereit
und wehrt dem Wind und wächst entgegen
der einen Nacht der Herrlichkeit.

Rainer Maria Rilke, 1875-1926


Auch ohne Schnee wünsche ich allen Freunden, Bekannten und LeserinInnen ein schönes und friedliches Weihnachtsfest! Und viele Lichter, die lange ins neue Jahr hinüberstrahlen.

Mittwoch, 21. Dezember 2016

Angst ist ein schlechter Ratgeber

Eigentlich wollte ich mich erst zu den Geschehnissen äußern, wenn die Hintergründe klarer sind. Da sind ja schon andere vorgesprescht und haben sie zum Wahlkampfthema gemacht. Auch ich habe geweint, eine Kerze angezündet, an die Opfer und ihre Angehörigen gedacht und konnte nicht begreifen, woher ein solcher Hass kommen kann. Habe drei Tage lang Hintergrundberichte, Interviews und Einschätzungen gesehen und die sozialen Medien nur am Rande gestreift. Irgendwo habe ich gelesen, dass schuld nur derjenige sei, der den Lastwagen gesteuert hat. Und eine ganze Riege von Leuten, die es bis heute eben doch nicht geschafft hat, miteinander zu kommunizieren, sei es bei den Erkennungsdiensten hier oder mit anderen Ländern, und die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Und es stimmt, dass die Betroffenheit immer am größten ist, wenn es das eigene Land betrifft. Absolute Sicherheit kann es nicht geben, hörte ich aus dem Mund vieler, die dazu befragt wurden. Es kam sogar das Beispiel eines Journalisten, der erzählte, Kollegen von ihm hätten nach den Anschlägen  in Paris Fahrräder mitgenommen, um nicht die U-Bahn benutzen zu müssen. Dabei seien einige von ihnen im Verkehr umgekommen.

Ich begrüße es, dass so viele Leute gesagt haben, sie wollten sich nicht einschüchtern und sich ihre Art zu leben nicht nehmen lassen. So war es auch in Paris. Ich habe keine Angst, aber das mulmige Gefühl der meisten. Sprachlos macht mich die Einsicht, dass wir nicht Monate oder Jahre, sondern wahrscheinlich Jahrzehnte mit diesen Anschlägen leben werden müssen. Und dass es sich nicht auf Metropolen beschränkt, sondern auch auf dem Land passieren kann-inzwischen werden sogar die kleinen Hirsauer Klosterspiele geschützt.

Sonntag, 11. Dezember 2016

Früher war alles besser-oder?

Gerade hat die Deutsche BahnAG angekündigt, die Schlaf - und Liegewagen abschaffen zu wollen. Und mal wieder die Preise zu erhöhen. Da kamen ein paar Bilder in mir auf, die mich davon überzeugen, dass es früher durchaus besser, aber auch schlechter gewesen ist. Nehmen wir doch mal das Beispiel mit der Bahn. Da gibt es bei mir die allerabenteuerlichsten Kindheits-, Jugend und Erwachsenenerinnerungen. Die Fahrt mit dem Dampfzug über den Nordostseekanal, das Spucken und Fauchen, der Dieseldreck, aber auch die herrlichen Ausblicke und der Wind, der einem am offenen Fenster um die Nase wehte. Die Fahrt über die Alpen an den Gardasee, inzwischen war ich zwölf Jahre alt, so grandios, dass ich die Eindrücke heute gern noch verwende. Aber um von Tübingen nach Hause, an die Ostsee zu kommen, musste ich während des Studium 12-14 Stunden in Kauf nehmen. Da waren die Schlaf - und Liegewagen gerade recht. Auch später noch spielten sich lustige Szenen in den Gängen vor den Kojen ab. Da wurde gefeiert und gequatscht, und der Schaffner wollte mir nicht glauben, dass einer meiner Begleiter mein Sohn sein sollte. Früher hatte man noch viel Zeit beim Umsteigen, konnte sich sogar fremde Städte anschauen und was Ordentliches zum Beißen kaufen. Denn die Bahn-Gastronomie war schon immer eine der Übelsten, vergleichbar etwa mit der in heutigen deutschen Autobahnraststätten. Ich denke nur an die angetrockneten Spagetti und die Bockwurst aus der Dose in der Erbsensuppe. Dazu später noch. Da tat man gut daran,  seine eigenen Leberwurstbrote auszupacken und den anderen damit etwas vorzurascheln. Es war sogar möglich, Ideen zu Romanen zu entwerfen und dies und das zu schreiben. Heute muss man in handyfreie Abteile gehen, um halbwegs Ruhe zu haben. Gespräche finden nicht mehr statt, jeder ist froh, auf sein Smartphone starren zu können. Die meisten pennen, lesen oder schälen Apfelsinen, denn danach riecht es in der letzten Zeit am häufigsten.

Der Alleinunterhalter Christoph Sonntag ist ein Experte auf dem Gebiet: Früher war alles besser. Erst kürzlich trat er in "Sonntag am Freitag" mit dem Thema "Bahn" in den Ring". Jaja, die Erbsensuppe und ihre Folgen. Dafür, dass wir in Großraumglaskästen gesperrt werden und alle Ausdünstungen und menschlichen Bedürfnisäußerungen in der Nase haben, hat es früher überall nach Urin gerochen. Urin und Diesel. Die Älteren unter den LeserInnen erinnern sich sicher: Während des Aufenthaltes auf den Bahnhöfen ist der Toilettenbesuch nicht gestattet. Heute hat man oft Mühe, das WC überhaupt zu finden und wenn man es gefunden hat, ist man froh, bald wieder draußen zu sein, so verdreckt und verstopft sind sie. Die Fahrkarte kaufte man im Bahnhof, heute druckt man sie im Internet schneller aus, als der Beamte am Schalter gucken kann. Angst vor Anschlägen musste man früher nicht haben, und es gab mal Zeiten, da waren die Züge noch pünktlich. Insgesamt muss festgehalten werden, dass die Bahn ihr Ziel, eine Alternative zum Autofahren zu werden, nicht erreicht hat, auch wenn man bald in zwanzig Minuten von Stuttgart nach Ulm wird fahren können. (Was macht man eigentlich mit der eingesparten Zeit?) In Paris, so hört man, sieht man zur Zeit den Arc de Triomphe nicht mehr vor lauter Smog. Die Maßnahmen, die Fahrverbote haben nicht gegriffen, denn sehr viele sollen sich nicht daran halten. Die gute alte Bahn entspricht dem guten alten V Käfer, der die ersten Urlauber über die Alpen nach Italien brachte und lief und lief. Die neue Bahn und der neue Autoverkehr sind neue Geisseln, die das Leben, so finde ich, nicht gerade angenehmer machen.

Samstag, 3. Dezember 2016

Ein Wohlfühlhaus am Heiligen Abend-voll hygge!

Die dänische Küste bei Wassersleben
Ein strahlend schöner Wintertag ist heute Morgen aufgezogen, Elstern und Rabenkrähen machen sich im Garten zu schaffen. Schräg gegenüber zittert -schon lange - das rotweiße Absperrband in der Brise. Dieses Band erinnert an die Taten, die da draußen immer häufiger und mit immer größerer Heftigkeit geschehen. Die Zeitung bringt es noch einmal an den Tag: In Hechingen erschießt jemand aus einem fahrenden Auto heraus einen jungen Mann, der nicht einmal gemeint zu sein scheint, wie in einem alten Mafia-Film, in Nagold ertrinkt ein 18jähriger einfach so, nach Besuch eines Lichterfestes, in Freiburg und Endingen wird jetzt größere Polizeipräsenz gezeigt, nachdem jahrzehntelang kein Geld dafür da war. In der großen Welt zimmert man ein Cowboy - und Hardlynerkabinett zusammen, und die Europäische Union scheint allmählich zusammenzubrechen, wie auch die Tunnels von Stuttgart 21. Staatliche und individuelle Gewalt nehmen zu, auch wenn das anscheinend schon immer so war. Was tun die Einzelnen in einer solchen Welt, in der Sicherheit und Wohlstand für viele in immer weitere Ferne rücken? Meine Zeitung hat eine Antwort darauf gefunden: Die Menschen machen es sich "hygge". Die Dänen seien schon lange die glücklichste Nation der Welt, weil sie diese "Hygge=Wohlfühlmentalität" praktizieren. Näher betrachtet bedeutet das aber nichts weiter als Privatisierung. Man sitzt in seinem Wohlfühlhaus am Fenster, mit grauen Kuschelsocken an den Füßen, überblickt das Ikea-designte Interieur, hält eine Tasse Tee in der Hand und plaudert mit seinen Nächsten und Liebsten. Aber bitte hinter geschlossener Tür, von dem Bösen da draußen wollen wir nichts hereinlassen. Beim Anblick des Schönen werde das Hormon Seratonin ausgelöst, haben Wissenschaftler herausgefunden. So lese ich auch das Schild schräg gegenüber: Hier entsteht ein Wohlfühlhaus, für eine junge Familie, großes Grundstück zur Abgrenzung, und wahrscheinlich ist der Baubeginn am Heligen Abend wie schon einmal vor fünfzehn Jahren gleich nebenan. Und schon beginnt ein Motor zu brummen und zu rattern!

Eigentlich kann ich das ganz gut nachvollziehen. Seit ein paar Wochen habe ich, mausarmbedingt, viel Zeit zu Hause verbracht. Und bin dabei -gezwungenermaßen -vollkommen zu Ruhe gekommen. Habe mich eingerichtet zwischen Wolldecken, Kerzen und aufgeräumter, sauberer Wohnung. Ein gutes Buch, schöne Farben und Schleichwege zu Geheimplätzen. Selbst die 260 Normseiten meines neuen Romans konnte ich in aller Ruhe überarbeiten. Sollen sie doch verzweifeln in ihren weihnachtlichen Autokolonnen! Was brauchten denn unsere Vorfahren, die Neandertaler und Homo sapiens sapiens? Eine Höhle, ein Feuer, einen Braten, Gemeinschaft, Feste, Götter, eine rudimentäre Sprache und Kunst in Form von Höhlenmalereien. Aber vielleicht hat ihnen das irgendwann nicht mehr ausgereicht, und sie mussten sich weiterentwickeln? Wahrscheinlich haben sie es sich nicht ausmalen können, was einmal aus ihnen werden würde. Und die Keule war schon immer da, Waffen zum Jagen und zum Töten.

Als Kind habe ich im Vorschulalter in Dänemark gewohnt, direkt an der Flensburger Förde. Eine alte Dame hatte uns ihr Haus zur Verfügung gestellt, bis das eigene Haus in Wassersleben fertig war, und war selbst in einen Anbau gezogen. Viele Jahre später kamen wir einmal im Schneesturm mit dem Flugzeug in Dänemark an, nach einem Weihnachtstaufenthalt in Teneriffa. Der Weiterweg war abgeschnitten. Und so nahmen dänische Familien deutsche und ausländische Touristen auf. Ich habe noch nie eine solche Gastfreundschaft erlebt, alles wurde geteilt. Und auch damals gab es schon dieses Ikea-Hygge-Ambiente. Ich bin mir nicht sicher, wie es heute wäre, dort in einer Sturmnacht anzukommen. Wahrscheinlich würden wir in einer beheizten Turnhalle übernachten, mit Matratzen auf dem Boden und einem großen Topf heißer Suppe.

Donnerstag, 24. November 2016

Autsch! Das Schmerzgedächtnis beim Schreiben

Es ist mal wieder soweit. Seit drei, vier Wochen, gleich im Anschluss an einen länger dauernden grippalen Infekt, schmerzen meine beiden Oberarme und merkwürdigerweise auch das rechte Bein ganz intensiv. Mein Gedächtnis signalisierte mir, dass ich das mal nach intensivem Hacken im Garten und nach Belastung durch Computerarbeit gehabt hatte. Nach längerem Sitzen oder Liegen wurde es manchmal so unerträglich, dass ich dachte, ich könnte nicht mal mehr Auto fahren. Durch viel Wechsel zwischen Sitzen, Stehen, Liegen, Laufen und Schreiben im Stehen ist es jetzt auf ein Mindestmaß runtergefahren. Zum Handschriftlichen hat es nicht gereicht, denn meine Schrift ist nachgeradezu unleserlich geworden. Und wer weiß, ob unsere altvorderen Dichter und Schriftsteller nicht auch Armweh durch die ständig gleiche Handbewegung bekommen haben? Wenige, gut dosierte Iboflam halfen mir manchmal durch den Tag, die Schmerzgels brachten allesamt nichts. Ursache ist nach meiner Forschung das lange Aufstützen der Arme nicht nur am Computer. Und dass ich einmal dreizehn, einmal zehn Seiten am Stück geschrieben habe.

Heute nun wollte ich einen kleinen Beitrag dazu schreiben und googelte den vorgesehenen Titel Der verdammte Mausarm. Nanu, genau unter diesem Stichwort hatte ich ja schon mal einen Artikel dazu geschrieben, im September 2013! Da hatte ich von meinen Blogkolleginnen einige sehr gute Tipps bekommen, die ich auch ganz unbewusst jetzt umgesetzt habe. Nur das mit der Kortisonspritze (Tipp von Annette Weber) hatte ich vergessen. Das ist nun auch nicht mehr nötig. Damals war der Grund für das Malheur ein Lektorat gewesen, das ich an einem Wochenende durchziehen sollte. Petra van Cronenburg hatte mir gezeigt, dass es auch ganz anders geht bei solchen Anforderungen und dass sie oft auch nur aus Gedankenlosigkeit entstehen. Diesmal war es aber anders. Es gab und gibt keinen Druck von außen. Ich wollte nur meinem Roman Dampf geben, damit er irgendwann endlich fertig wird. Und die kurzen dunklen Rentnertage und die langen dunklen Rentnernächte verschönern. Dass das auch anders geht, habe ich in den letzten Tagen und Wochen erfahren. Der Schmerz zwingt einen ja dazu, mit dem schädlichen Verhalten aufzuhören und etwas anderes zu probieren. Das heißt zum Einen, rauszugehen und die Welt mal wieder unter anderen Blickwinkeln zu betrachten, zum Anderen, die Haltung immer wieder zu überprüfen, sowohl anderen als auch sich selbst gegenüber und sowohl in körperlicher als auch in mentaler Hinsicht. Auf jeden Fall noch einmal Dank an diejenigen, die mir vor drei Jahren Tipps gegeben haben! Von Anni Bürkl stammte der Hinweis auf den Bewegungswechsel. Und vielleicht gibt es ja noch einen Rat, wie man das Schmerzgedächtnis wachhalten kann, nicht immer mal wieder vergisst, wie weh das tun kann und nie wieder über die Stränge schlägt?

Samstag, 12. November 2016

An Weihnachten wirst du wieder zum Kind

Ein jeder von uns wird sich an die Weihnachten seiner Kinder - und Jugendzeit erinnern. Damals, als die Zeit noch viel langsamer voranging als heute. Als es geheimnisvoll raschelte in der Wohnung, wochenlang Adventskalendertürchen geöffnet wurden, der Duft nach Vanillekipferln aus allen Häusern drang und ein als Nikolaus verkleideter Vater an den Schuhen erkannt wurde. Die Glocke, die zur Bescherung ertönte, der Weihnachsbaum mit seinen knisternden Kerzen, die Weihnachtsgedichte, die Pute und der Karpfen, der immer so schleimig schmeckte, dass man nach Protest statt dessen ein Beefsteak erhielt. Diese Kinderweihnachten scheinen sich ganz tief ins Bewusstsein vieler Menschen eingegraben zu haben. Und ich glaube nicht, dass es heute so viel anders sein wird - würden sonst schon Mitte November Advenskränze und Weihnachtsbäume auftauchen mitsamt allem Flitter, Tand und Süßigkeiten? Nur die Auswahl der Geschenke wird eine andere sein, sie wird sich eher auf elektronische Geräte, Parfüm und Bücher beschränken.

Ich selbst hatte dieses Weihnachtsmodell auf die eigene Familie übertragen. Nur musste alles noch einen Tick interessanter, intensiver, schöner und duftender sein. Da waren es Bienenwachskerzen und selbstgebastelte Sterne an der Edeltanne, ein Rehbraten statt des Karpfens und mindestens sieben verschiedene Plätzchen, die gebacken werden mussten. Irgendwie merkte ich irgendwann, unter welchem Stress meine Eltern gestanden haben mussten, auch wenn sie nur halb so viel Weihnachtsaufwand betrieben. Und auch dann, als statt der Familie eine Patchwork-Familie entstand, ging es so weiter und so fort. Weihnachten wurde man wieder zum Kind, die Rollen wurden unweigerlich wieder die alten. Was so weit führte, dass mein Vater die Pute, die ich selber stundenlang in der eigenen Küche gebraten hatte, ohne Widerrede am Tisch zerteilte und jeder nur ein kleines Stück bekam. Das war die Initialzündung.

Etwa zwanzig Jahre später schrieb ich meine erste Kurzgeschichte - ein Weihnachtsmelodram und eine Humoreske, die sich über viele Jahre erstreckte. Das brachte ein wenig Distanz hinein, und doch war die Angelegenheit noch lange nicht zuende. Alljährlich zur Weihnachtszeit wälzen sich die Gedanken im Kopf herum: Wer, wo, mit wem und wie? Der eine will eine Fichte, der andere die Edeltanne. Rituale ja oder nein, Vatermutterkind und andere Vätermütterkinder, und was wird gegessen, und warum fährt man nicht endlich mal auf eine Berghütte oder in ein warmes Land, um all dem Trubel, dem Stress und Lärm, den kilometerlangen Staus zu entgehen? Alles nur dazu gedacht, die Menschen bis zur Entschöpfung anzutreiben, bis sie sich schließlich unter dem Tannenbaum anschreien oder versehentlich ein Feuer entfachen. Was ist der Grund dafür, dass sie sich derartig unter einen Zwang begeben, ohne dass sie jemand dazu gezwungen hätte?

In diesem Zusammenhang stieß ich auf einen Blog, der persönliche Dinge ausführlich, nicht nur in 140 Zeichen erklärt und nicht verspricht, dass es schnelle Lösungen gibt. Auf diesen Artikel: Weihnachten können Sie feststellen, wie erwachsen Sie sind. Da geht es um Erwartungen, Wünsche und Forderungen anderer, mit denen man sich entweder kindlich oder erwachsen auseinandersetzen kann. Kindlich sind Strategien wie Anpassung oder Rebellion, weil der Betreffende darin stecken bleibt wie in einem zu klein gewordenen Anzug. Man sollte sich einmal fragen, wie man selbst eigentlich am liebsten Weihnachten feiern (oder auch nicht feiern) würde. Und wie man das mit den (kindlichen?) Wünschen der anderen unter einen Hut bringen kann. Ich selbst bin noch am Überlegen. Wie immer mit reduzierten Edeltannenzweigen, Kerzen, Fondue Bourgignonne und Schneewanderung? Kinderbesuch, Weihnachtstrompetenblasen auf dem Kirchplatz oder Fackelfeuer? Und wenn es gar keinen Schnee gibt, wie meist? Wenn man im Regen und im Matsch stehen muss, um Rituale durchzuziehen? Oder Essen gehen? Sollte man einfach mal gar nichts tun, ohne Rituale? (Gerade wird im Radio von Weihnachten geredet, Weihnachtslieder werden gespielt! Das ist die Suggestion, mitmachen zu müssen.) Eines ist für mich auf jeden Fall sicher: Auf Tannenzweige und Kerzen werde ich nie verzichten, denn das Licht symbolisiert die Wintersonnenwende und damit das Näherrücken des Frühlings.

Dienstag, 8. November 2016

Das geheime Leben der Bücher

Anfang Oktober hatte ich das Glück, während eines Autorentreffens eine Live-Lesung des Bestsellerautors Peter Wohlleben zu hören. Er sprach über sein zweites Buch, Das Seelenleben der Tiere, das ebenfalls ganz hoch oben auf der Bestsellerliste landete. Es war spannend zu hören, wie einen so ein Ereignis treffen und das ganze Leben verändern kann. Ich habe das erste, signierte Buch Das geheime Leben der Bäume dann gelesen und war total begeistert. Über die Bäume habe ich viel gelernt, wie sie sich gegenseitig unterstützen, ihren Nachwuchs "stillen" oder wie die Buchen sich durchsetzen und niemand unter ihnen hochkommt. Tiere haben viel mehr Seelenleben, als man sich das bisher vorgestellt hat. Seitdem gehe ich mit anderen Augen durch den Wald und durch die Welt. Damit haben sich endlich einmal zwei Bücher durchgesetzt, die unsere Umwelt dem Menschen wirklich nahebringen. Aber ich habe mich auch an bestimmte Worte Wohllebens erinnert. Aller Erfolg, den man sich einmal erträumt hat, weltweite Bekanntheit und Reisen durch die Fernseh- und Radiostudios wiegen nicht die wirklich wichtigen Dinge im Leben auf: Die Beziehungen zur Familie und zu Freunden. Im Einklang zu sein mit sich selbst und seiner Umwelt.

Erfolg macht nur glücklich, das habe ich erfahren, wenn er in diesem Einklang mit sich selber und der Umwelt steht. Und wenn diese Ziele im Umfeld des Erreichbaren angesiedelt sind und die Messlatte nicht ständig zu hoch angelegt wird. In meinem neuen, arbeitsfreien und selbstbestimmten Leben hat sich der Fokus verschoben. Bücher zählen dabei zum größten gemeinsamen Nenner, daneben Museen, Musik, gutes Essen, die Natur und alle kulturellen Dinge. Menschen, die noch zuhören und sich zuwenden können. Das gilt auch für die Beziehungen in den sozialen Netzwerken, die durchaus zum Wohlbefinden beitragen können.
Was ich gerade schreibe, hat alle Zeit der Welt. Es führt mich an ferne und bekannte Orte und hilft mir, die graue, kalte Novemberzeit bis Ende Februar mit ihrem Bluespotential zu überbrücken.


Samstag, 22. Oktober 2016

Einfach leben! Ein Potpourri des Herbstes

In den langen Tagen und Nächten, die ich ungewohnterweise krank zuhause verbringen musste, dachte ich manchmal an die Matratzengruft von Heinrich Heine. Was wäre, wenn man gar nicht mehr auf die Beine kommt? So was Dummes, schalt ich mich, du bist in deinem Leben immer wieder auf die Beine gekommen. Und überhaupt, so ein Selbstmitleid. Ich ging durch die Welt wie von Schleiern umgeben. Merkte, dass sie sich allmählich von Tag zu Tag mehr hoben, und dass dahinter eine ganz neue Welt zum Vorschein kam. Bekannt und vertraut und doch vollkommen neu. Jetzt ist wieder die Zeit der langen Nächte angebrochen, die Tage bis zum nächsten Frühling sind unendlich lang und kaum zu zählen. You have had it, brother, alle Wärme, alles Schöne, alles Blühende, alle Städte und Landschaften, alle Genüsse und Begegnungen hast du wieder enmal gehabt. Es gibt doch noch etwas anderes als das Streben nach irgendetwas? Da mitten hinein kam die Nachricht vom Reichsbürger, der einen Polizisten getötet hatte, nachdem der mit seinen Kameraden ihm seine Waffensammung abnehmen wollte. Die Reichsbürgerbewegung war bisher ein völlig unbekanntes Phänomen. War die deutsche Justiz mal wieder auf dem rechten Auge blind? Diese Gewalttat eines Waffenbürgers der Nazizeit hat mir die Augen geöffnet über das, worüber ich gerade schreibe: Der Sumpf ist nicht trockenzulegen, war es damals nicht und ist es heute nicht. In Belgrano im Gran Chaco/Argentinien feiern sie heute noch das Oktoberfest, auf übertrieben deutsche und altmodische Art. Dort sollen die Überlebenden der Graf Spee sich nach 1939 angesiedelt haben.Wie die Nazis Argentinien anzapften. Das hat meine Arbeit ein Stück weitergebracht.

Aber nun zum Leben an sich. Wir sind seit jeher Landpomeranzen gewesen, haben immer gestaunt über die glitzernden Welten der großen Städte, ihre Aufgeschlossenheit, ihre trotz allem dichtere Präsenz in vielen Dingen. Warum nicht mal wieder nach Pforzheim fahren, in die Stadt, die im letzten Krieg bis auf die Grundmauern niedergebombt und so hässlich wieder aufgebaut wurde? Vom Geheimparkplatz, auf dem sich immer ein freies Plätzchen findet, sind es ein paar hundert Meter in die Innenstadt. Mein Partner, der sich oft als Grantler und Misanthrop entpuppt, kann genauso schnell zum humorvollen Straßenhüpfer werden. Und ich weiß, wie ich sein Musikerherz begeistern kann: Per Google hatte ich den Standort eines Musikladens herausgefunden, der versteckt in der Barfüßergasse gegenüber der Galeria Kaufhof liegt. Nachdem ich ihn dort geparkt hatte, konnte ich meine Streifzüge durch die Klamottenläden und die Buchhandlung Thalia machen. Gekauft habe ich allerdings nur ein Buch. Wieder vereint, ließen wir uns einfach nur treiben, mal hier in einen Glaspalast zum Kaffeetrinken, Scherzchenmachen mit dem Barkeeper, Lauschen auf die Sprache der alten Spanier, gegenüber Banken, Apotheken, eine Gemüsehandlung, ein Brezelladen und eine Handyanlaufstelle. Dann Hotdogs in einem weiteren Palast, ein Hin und her und Ein und Aus. Spaziergang an den dunklen Wassern der Enz, noch tiefgrüne Weiden lassen ihre Zweige in den Fluss hängen. Wanderungen in der Großstadt. So einfach ist das. Oder haben wir irgendwo den Ruf der Zugvögel gehört?


Turgenjew, [Turgenjev] Iwan S. (1818-1883)

Ich lieb den Herbst

Ich lieb den Herbst, im Blicke Trauer.
In stillen Nebeltagen geh
Ich oft durch Fichtenwald und seh
Vor einem Himmel, bleich wie Schnee,
Durch Wipfel wehen dunkle Schauer.

Ich lieb, ein herbes Blatt zu Brei
Zu kauen, lächelnd zu zerstören
Den Traum, dem wir so gern gehören.
Fern des Spechtes scharfer Schrei!
Das Gras schon welk...schon starr vor Kühle,
Von hellen Schleiern überhaucht.
In mir das Weben der Gefühle,
Das Herz in Bitternis getaucht...

Soll ich Vergangenes nicht beschwören?
Soll, was da war, nie wieder sein?
Die Fichten nicken dunkel, hören
Gelassen zu und flüstern Nein.
Und da: ein ungeheures Lärmen,
Ein Ineinanderwehn von Zweigen,
Ein Rauschen wie von Vogelschwärmen,
Die, einem Ruf gehorchend, steigen.


Samstag, 8. Oktober 2016

Im Oktober

Der Oktober war in diesem Jahr ein Einschnitt. Nicht nur, was den Abschied vom Sommer und den Hinauswurf ins Kalte, Trübe betrifft. Am letzten Wochenende besuchte ich das Autorentreffen in Oberursel und war so angetan und inspiriert wie lange nicht mehr. Aber es war nicht nur ein Kokon, der alle eingehüllt hätte, sondern öffnete auch manches Auge für die Situation der Autoren in dieser Zeit. In Frankfurt Hauptbahnhof kehrte die Realität mit aller Macht zurück: Die Live-Festnahme zweier Männer in einem Zug mitsamt Koffer, ein Terroralarm mit schwerbewaffneten Polizisten. Und die Kälte wurde immer unerbittlicher. Jetzt liege ich seit Tagen mit einer schweren Erkältung darnieder, umgeben von Tees, Unmengen von Papiertaschentüchern, Büchern und Kreuzworträtseln. Auf der Suche nach Oktobergedichten habe ich eins von Erich Kästner gefunden, den ich bisher mehr mit "Emil und die Detektive", "Pünktchen und Anton" usw. identifiziert habe. Spricht für diese Stimmung und gefällt mir sehr gut!


Der Oktober 

Fröstelnd geht die Zeit spazieren.
Was vorüber schien, beginnt.
Chrysanthemen blühn und frieren.
Fröstelnd geht die Zeit spazieren.
Und du folgst ihr wie ein Kind.

Geh nur weiter, bleib nicht stehen.
Kehr nicht um, als sei's zuviel.
Bis ans Ende musst du gehen,
hadre nicht in den Alleen.
Ist der Weg denn schuld am Ziel?

Geh nicht wie mit fremden Füßen
und als hättst du dich verirrt.
Willst du nicht die Rosen grüßen?
Lass den Herbst nicht dafür büßen,
dass es Winter werden wird.

Auf den Wegen, in den Wiesen
leuchten, wie auf grünen Fliesen,
Bäume bunt und blumenschön.
Sind's Buketts für sanfte Riesen?
Geh nur weiter, bleib nicht stehn.

Blätter tanzen sterbensheiter
ihre letzten Menuetts.
Folge folgsam dem Begleiter.
Bleib nicht stehen. Geh nur weiter,
denn das Jahr ist dein Gesetz.

Nebel zaubern in der Lichtung
eine Welt des Ungefährs.
Raum wird Traum. Und Rausch wird Dichtung.
Folg der Zeit. Sie weiß die Richtung.
"Stirb und werde!" nannte Er's.

Erich Kästner, 1899-1974





Dienstag, 27. September 2016

Monopoly für die Seele

Seit einem Jahr und drei Monaten bin ich nun Mitglied einer allmählich erstarkenden Gruppe: der RentnerInnen in Deutschland. Was für Vorstellungen hatte ich gehabt, was davon hat sich erfüllt und was hat sich als völlig andersartig erwiesen? Ich denke noch an die Geschichte von dem Mann, der ein Vogelhäuschen baute, dann noch eins und so viele, dass sich am Schluss die Vögel über seine Verschwendungssucht beschwerten. Der allmählich vertrottelt im Morgenmantel herumlief und die Mitglieder von esoterischen Gruppen brüskierte. Vorsicht, warnten die Ratgeber, mit ihrem Lebensgefährten werden Sie jetzt viel mehr Zeit verbringen als zuvor. Und der wird Ihnen auch mehr reinschwätzen als zuvor. Dem wollte ich entgegenwirken. Tätig sollte der Tag zu Ende gehen, sozial und kreativ wirksam, selbstverständlich. Dazu würde ich große Reisen machen und weitere Bücher schreiben. Doch wie so oft im Leben kam es ganz anders. Im Juli 2015 gab es einen Todesfall, der mir mit erschreckender Klarheit vor Augen hielt, dass ich das letzte lebende Mitglied dieser Familie sein würde. Auf der anderen Seite waren die neue Freiheit von jeglicher Arbeit und von allen Terminen, die monatelangen Sonnentage wie ein Rausch, dem ich mich voll und ganz hingegeben hatte. Der Winter aber ist ein harter Mann. Der Lebensgefährte hat mir nicht reingeschwätzt, sondern hat mich ständig mit Fluchtgedanken - Deutschland sei unbewohnbar geworden - und Auswanderungsgedanken aus demRuder geworfen. Du entkommst dir nicht, und anderswo kochen sie auch nur mit Wasser! Nicht nur einmal habe ich, die friedfertigste Person der Umgebung, mit der Faust auf alles mögliche eingehauen.

Eines Tages, oder innerhalb von Wochen, dachte ich mir: Wie wäre es, wenn ich wie beim Monopoly sagen würde: Gehe zurück auf Los. Ziehe keine 4000,- DM ein. Vergiss alles, was du bisher erlebt, was du studiert, gearbeitet und geschrieben hast. Erinnere dich an die selbstwirksamen Elemente dieser Zeiten, denke an den roten Faden, der dieses Webtagebuch seit den fast zehn Jahren durchzieht, die es jetzt existiert. Resilienz und Achtsamkeit, das waren meine Stichworte, und die hat uns unsere Supervisorin auch in einer der letzen Stunden ans Herz gelegt. Man kann niemandem helfen, wenn man sich nicht selber helfen kann. Die Likes, die ich in mehr als vier Jahren bei Facebook vergeben habe, waren der vergebliche Versuch, anderen etwas zu geben, was ich selbst gut hätte brauchen können. Wohlgemerkt, die Likes, an Informationen und echtem Austausch habe ich vieles mitbekommen. Aber es hat so müde gemacht auf die Dauer. Ebenso die Versuche, gegen Buchmarktmühlen anzurennen.

Jetzt bin ich eine neue Rentnerin. Oder zumindest im Begriff, eine zu werden. Ein Vogelhäuschen gibt es schon seit zwei Wintern, das stammt von irgendeinem Bauernmarkt. Der Morgenmantel wird gar nicht erst angezogen, die esoterischen Gruppen gar nicht erst besucht. Geholfen wird dort, wo die Hilfe nicht in einem Fass ohne Boden versinkt. Die vielgelobten Tiere als Aufgabe für RentnerInnen brauche ich nicht, denn sie sind ständig anwesend. Nach der geliebten Katze, die mich monatelang besuchte, ist gegenüber wieder ein neues Kätzchen da, das an meinem Walnussbaum hochspringt, wieder runterfällt und noch etwas scheu meinen Wohnraum erkundet. Dompfaffen und Rotkehlchen machen es sich auf den Gartenstühlen gemütlich, Eichhörnchen sammeln Nüsse und vergraben sie im Beet, Amseln und Elstern zetern im Verbund oder singen des Abends Melodien. Und nachts schreit in der Ferne immer wieder ein Esel. Der Nachbarsjunge donnert jetzt nicht mehr so oft seinen Ball an die Garage, er pfeift nicht mehr aus Angst, das verboten zu kriegen, denn wir haben uns über seiner kleinen Katze versöhnt. Was mir gut tut, weiß ich und weiß ein jeder, der diesen Blog regelmäßig verfolgt. Kleine und große Wanderungen, Ausflüge abseits der Autoströme und Baustellen, gutes Essen, gute Bücher, empathische und authentische Menschen, Kultur und Abwechslung und das Schreiben ohne Gedanken an das, was daraus werden könnte. Am Wochenende fahre ich zu einem Autorentreffen in Oberursel, das ist eine schöne Abwechslung und Bereicherung meines digitalen Alltags. Und einige von diesen Gedanken fand ich bei meiner sehr geschätzten Kollegin Petra van Cronenburg wieder. Ist das Müll oder kann das weg?

Herbsttag

Und noch ein Herbstgedicht, das ich, neben dem von Eduard Mörike, immer am meisten gemocht habe:

Herbsttag
HERR: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
Und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
Gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
Dränge sie zur Vollendung hin und jage
Die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
Wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
Und wird in den Alleen hin und her
Unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke (1875-1926)
(Herbst 1902)

Freitag, 16. September 2016

Wie ein Schreiber zu Potte kommt

Immer, wenn ich in den beiden letzten Wochen an meinen Blog dachte und daran, dass es mal wieder Zeit würde, einen Beitrag zu schreiben, verwarf ich diesen Gedanken wieder. Der letzte Beitrag war ein Herbstgedicht von Theodor Fontane, was merkwürdigerweise geradezu zu einem Hype von Besuchern führte. Als würden viele Menschen nach Sinn-Gedichten oder Dingen suchen, die sie mental aufbauen. Das kann natürlich nicht zur Folge haben, dass mein Blog künftig nur noch aus Zitaten bestehen würde und ich nichts mehr aus meiner Feder fließen lasse. Ja, für wen schreibe ich jetzt seit zehn Jahren diesen Blog? Für alle, die meinen Blick auf das Leben (und auf das Schreiben) teilen. Gestern habe ich kurz in einen Fernsehbericht reingeschaut, in dem es um Hass im Netz ging. Radikalisierung entstehe, wenn sich eine Gruppe bildet, die eine Meinung teilt und alles andere ausschließt. Solidarität entsteht umgekehrt genauso, nur lässt sie abweichende Meinungen zu oder kann sie absorbieren. Des Weiteren habe ich überlegt, ob ich für meine Altersgruppe, die Rentner, einen Beitrag schreiben sollte. Wie es sich anfühlt, nach etwas mehr als einem Jahr richtig angekommen zu sein, sich von den Vorstellungen, die das Berufsleben bestimmten, verabschiedet zu haben. Und eine ganz neue, entspanntere Identität gefunden zu haben.

Wenn du in Rente gehst, wirst du sicher froh sein, mehr Zeit zum Schreiben zu haben, sagte damals eine Klientin zu mir. Wir wünschen dir noch viele Bestseller, schrieben die Kollegen auf das Abschiedskärtchen. Was schreibst du denn gerade, und wie geht es sonst mit deinen Büchern?, wollte die Vorstandsrunde beim Abschiedsessen wissen. Da komme ich immer in Erklärungsnot. Das Buchgeschäft ist auch nicht mehr das, was es einmal war, versuche ich dann auszuweichen. Ich schreibe jetzt E-Books. Das war die große Unbekannte und in den Kreisen durchaus kein erstrebenswertes Mittel, um Bücher zu lesen. Sie alle gehören allerdings zu meiner "Zielgruppe", denn sowohl Klienten als auch Kollegen haben meine Bücher immer sehr gern gelesen.

Was ich mit meinem "Rentnerbeitrag" hätte erreichen wollen? Vielleicht anderen in einer ähnichen Situation Mut zu machen, andere, kreativere Wege zu gehen als bisher. Ich hatte nur noch nicht die Worte dafür gefunden. Heute Morgen besuchte ich den Blog einer lieben Autorenkollegin, die genau das schrieb, was mir die ganze Zeit im Kopf herumgegangen ist. Tausend und ein Gedanke. Das gilt nicht nur für das Schreiben, sondern für das eigene Leben, das man unabhängig von der Meinung anderer so gestaltet, wie es für einen passt und was einen "glücklich" macht. "Erfolg", so denke ich gerade, ist eine Art dicke Kuh, die einen aufs Eis zum Tanzen verführen will. (Da höre ich im Hintergrund Protest der vielen Leser, die meine Bücher gelesen haben-hallo, hier, hier ist deine Zielgruppe!, monieren sie). Dem Ruf dieser tanzenden Kuh bin ich nicht mehr gefolgt, habe mich nirgends mehr beworben, sondern schreibe an meinem neuen Roman, dessen verknotete Strukturen ich vor ein paar Tagen aufgelöst und neu zusammengesetzt habe. Ich kann wieder schreiben, ohne zu wissen, ob sich dafür eine Agentur, ein Verlag oder eine Zielgruppe im Self Publishing finden wird. Und das ist einfach beglückend.

Dienstag, 30. August 2016

Altweibersommer

                                                         
O trübe diese Tage nicht

              O trübe diese Tage nicht,
 Sie sind der letzte Sonnenschein,
Wie lange, und es lischt das Licht
   Und unser Winter bricht herein.

   Dies ist die Zeit, wo jeder Tag
    Viel Tage gilt in seinem Wert,
Weil man's nicht mehr erhoffen mag,
Dass so die Stunde wiederkehrt.

Die Flut des Lebens ist dahin,
Es ebbt in seinem Stolz und Reiz,
Und sieh, es schleicht in unsern Sinn
Ein banger, nie gekannter Geiz;

Ein süßer Geiz, der Stunden zählt
Und jede prüft auf ihren Glanz,
O sorge, daß uns keine fehlt
Und gönn' uns jede Stunde ganz.
(1819 - 1898), dt. Schriftsteller, Journalist, Erzähler und Theaterkritiker

Samstag, 27. August 2016

Einfach mal aus dem Fenster schauen

Umfragen scheinen wirklich in zu sein, und gestern hat meine Zeitung mal wieder eine gebracht. Ich lese sie gern, nicht, weil man zu jedem Thema eine Untersuchung machen könnte, um damit etwas zu "beweisen", sondern weil sie Trends anzeigen, die ich selbst beobachte. Den Freizeit-Monitor 2016 kann man sich herunterladen; ich fasse kurz zusammen, was ich da in der Papier-Zeitung gelesen habe. Bei allem Multi-Tasking und und bei aller Ich-Inszenierung deute sich in letzter Zeit ein neuer Trend an: einfach mal nur zu faulenzen. Was heißt denn das nun eigentlich? Faulenzen kommt laut Duden aus dem Ostmitteldeutschen und bedeutet: Faulig sein, übel riechen, sich dem Nichtstun hingeben [und dabei Dinge vernachlässigen, die man zu erledigen hätte], arbeitsscheu sein, sich dem Nichtstun hingeben, die Hände in den Schoß legen, nichts arbeiten/tun, untätig sein; (gehoben) auf der faulen Haut liegen, Daumen/Däumchen drehen, dem lieben Gott den Tag stehlen, die Zeit totschlagen, (Jugendsprache) chillen Die Wissenschaftler geben zu bedenken, dass das heutige hohe Tempo in der Arbeit und Freizeit nicht zu halten sei. In den 60 er Jahren hätte das "einfach mal aus dem Fenster schauen" einen hohen Stellenwert gehabt. Heute hält man jemanden, der stundenlang aus dem Fenster schaut, wahrscheinlich für spinnert oder depressiv. In der Freizeit seien In-Sportarten und Mediennutzung aller Art gefragt, immer etwas, über das man auch interessant in den Medien berichten kann. In den 60ern hätte es 30 Sportarten gegeben, heute sind es 400. Geht man heute essen, checkt man nebenbei noch seine Mails, seine Facebook-und anderen Kontakte, telefoniert und spielt Pokemon. Out sei, was einen langen Atem braucht, also so etwas wie malen, dichten, handarbeiten. Auch die echten sozialen Kontakte kämen zu kurz. Dabei sei die liebste Beschäfigung der Stichprobe, mit 70% Anteil, über wichtige Dinge zu reden! Die glücklichste Generation seien in den Augen der Forscher die Senioren, denn sie hätten noch gelernt, sich Zeit zu nehmen. Schon die Kinder würden in der Zeit, die ihnen die Schule lässt, verplant von Eltern, die wie Helikopter über ihren Häuptern schweben samt Anbieten von Chauffeurdiensten. Der geplagte Multifunktionierer verkomme zur Couch-Potato, die nur noch auf und an Geräten herumdaddelt. Man wolle jetzt Kontakte nicht mehr 2.0 auf dem Bidschirm haben, sondern im eigenen Wohnzimmer.

Ist das alles aber wirklich so? Und löst der arbeits-, freizeits- und mediengestresste Mensch sein Überforderungsproblem damit, dass er einfach mal aus dem Fenster schaut? Wahrscheinlich hätte er Schwierigkeiten, das in seinen Tagesablauf einzubauen. Persönlich empfehlenswert finde ich immer den Ansatz, nur wirklich wichtige Dinge an sich heranzulassen, unter anderem die, die getan werden müssen. Es gibt ja diesen Begriff des Abschaltens. Früher waren damit keine Geräte gemeint, sondern das innere Freimachen von Gedanken und Gefühlen und einfach nur zu sein. Ich gehöre zur angeblich glücklichen älteren Genration, die aber sehr wohl in das Medienzeitalter hineingewachsen ist. Fast alle Rentner, mit denen ich in diesem Jahr gesprochen habe, hatten viel weniger Zeit als vorher. Meist führten sie berufsähnliche Dinge weiter, von denen sie sich nicht lösen konnten. Das tue ich nicht, und trotzdem habe ich das Gefühl, noch weniger Zeit zu  haben als in den Jahren, in denen ich gearbeitet habe und eine Familie hatte. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich in den letzten Jahren
zwischen Beruf, Medien und Beziehung auch noch so viele Bücher schreiben konnte! Dabei entsprechen meine Freizeitinteressen durchaus denen mit dem  "langen Atem", taten sie schon immer. Zum Wandern, Reisen, Fotografieren, Lesen, Schreiben, Schwimmen und Kochen braucht man Zeit. Wenn man nebenher twittert, telefoniert oder sonstwie medienaffin agiert, verwischt sich das Ganze. Wenn ich koche und nebenher Mails schreibe oder chatte, brennt mir das Essen an. Ich glaube, dass man nichts wirklich Wichtiges aufgeben, sondern wieder das Nacheinander lernen muss. Zeit für Medien und Telefonate, Zeit für für die Arbeit (und dort nicht Pokemon spielen, das kann böse enden!), Zeit für Hobbies, für Verwandte, Freunde und sich selbst. Ausgewogenheit ist das Stichwort, es sollte kein Gebiet unter den Tisch fallen oder überhand nehmen. Und außerdem wichtig finde ich, dass man seinen Selbstwert nicht an der Zahl der Facebookfreunde, der Likes und sonstigen Rückmeldungen festmacht, sondern an der Stellung, die man sich insgesamt in der Welt geschaffen hat.



Samstag, 20. August 2016

Kleine Reisefluchten und Abenteuer

Portal des Erfurter Doms
Kaum waren wir zurück von einem mehrtägigen Kulturtripp, meldete das Fernsehen, dass eine halbe Million Besucher auf der Gamescom  in Köln gewesen sei. Youtube-Filmemacher würden gefeiert wie Popstars, und mit neuen speziellen 3D-Brillen könne man in nie gesehene Parallelwelten eintauchen. Ich kann das sehr gut verstehen, dass man neue, aufregende Parallelwelten braucht, wenn die reale Welt so grau und langweilig geworden ist! Und ich sehe auch Übereinstimmungen bei der alten und der jungen Generation. Der Mensch braucht mehr als körperliche Versorgung, Beschäftigung und Zuwendung, nämlich Abwechslung und Anregung, um nicht in lähmende Gewöhnung zu verfallen. Ich selbst lebe ja seit langen Jahren in der Parallelwelt des Schreibens und des virtuellen Austauschs. Und bekanntlich versuche ich auch seit langen Jahren, immer wieder daraus hervorzubrechen und die bald verlorenen letzten Paradiese zu finden. Auch in einer übervölkerten autobesessenen Nation musste es doch möglich sein, ein paar Orte zu entdecken, an denen die berühmte Seele noch ein wenig baumeln kann. Und wo man etwas anderes erlebt als an den übrigen 360 Tagen des Jahres. Es war der gefühlte zehnte Versuch. Tasche gepackt, raus aus dem Haus auf die Autobahn. Ziel: Die unbekannte Saale, mit ihrer anderen Landschaft, fremden Städten, Burgen und Menschen. Innerhalb dreier Stunden erreichten wir Meiningen in Thüringen. Dorther stammt der Urvater meiner Familie, ein Gastwirt zum Wilden Mann namens Luz, verbürgt für das Jahr 1521. Er dürfte den Bauernkrieg noch erlebt, wenn nicht überlebt haben. Beim ersten Besuch dieser Stadt (vor acht Jahren) gelangten wir auf einen weiten Platz mit einer Kirche und einem Rathaus. Außer ein paar angetrunkenen Jugendlichen befand sich
niemand dort, zu essen bekamen wir irgendetwas Grauenhaftes von einem Chinesen. Aber es lag ein etwas angestaubter Zauber über diesem Ort. Diesmal kamen wir gar nicht erst hinein, alles voller Baustellen und umherirrender Autos.

Schnell weiter nach Schmalkalden, bekannt wegen des Schmalkaldischen Krieges. Auch dieser Ort war uns vertraut. Damals ein altes Schloss mit Schlossführer und Geschichten über Iwein, stille, zu stille malerische Gassen, ein Café, ein, zwei Restaurants. Dazu viel über Luther und Geschichte. Diesmal quoll der Ort über vor Tausenden von Touristen. Wie das, an so einem "langweiligen" Platz? Der Grund wurde schnell ersichtlich: Viele neue Hotels und Gaststätten in alten Gemäuern, Eisdielen noch und noch, Andenkenläden, eine Touristenbahn, Schmuck- und Kleidergeschäfte. Das machte einen überaus heiteren und neuartigen Eindruck, dazu noch das bombige Wetter bei 21-23°. Wir quartierten uns im Hotel "Patrizier" aus dem 16. Jahrhundert ein, in einer nicht gerade billigen, aber herzoglich eingerichteten Suite mit Alkoven und imitierten Louis - IV-Stühlen. Beim Abendessen auf dem Marktplatz war der ganze Spuk schon verschwunden, ein kalter Wind kam auf und gegen 22.00 wurden sämtliche Bürgersteige hochgeklappt. Wir tranken Bier in der Suite, hingen aus dem Fenster und lauschten gebannt dem Nachtleben dieser wunderbaren Stadt. Gegenüber hinter einem Fenster saß ein Mensch in einem Flur und schaute anscheinend auf einen Fernseher, der aber nicht zu sehen, redete mit einem Menschen, der nicht zu hören war und verschwand manchmal durch eine Tür. Irgendwann sah man gelbliche Knochen auf dem Boden liegen, aber in Wirklichkeit war das ein schlafender Hund, der nicht mal mit den Pfoten zuckte. Im Zimmer schrie ein Kind, ein anderer Mann wurde sichtbar. Unten auf der Straße näherte sich eine Frau, richtete eine Taschenlampe auf einen Zettel des Nachbarhauses, schrieb etwas auf, leuchtete wieder mit der Taschenlampe, schrieb wieder etwas auf. Dann schaute sie sich vorsichtig um und stöckelte weiter. Eine Fledermaus flog fast in unser Fenster hinein. Mit das Beste am Reisen ist übrigens immer das Hotelfrühstück, die Beeren, Früchte, Yogurts, Brötchen, Säfte, Brotsorten, der Speck und die Rühreier, die Frikadellen, die Wurst und der Käse treiben überall die Zimmerpreise in die Höhe.

Nun waren wir ernsthaft gewillt, die Saale mit ihrem hellen Strande, ihren Burgen, Städten und fremden Menschen zu erreichen. Fuhren endlose Umwege, da überall gesperrt und nicht richtig umgeleitet wurde. Ob die anderen das mit ihren Navis schafften? Offensichtlich nicht, denn es waren genügend gestresste und wütende Gesichter zu sehen. Allerdings wird in Thüringen nicht genötigt beim Autofahren, und auch sonst sind die Menschen sehr zuvorkommend und herzlich. Um es gleich vorwegzunehmen: Wir erreichten die hellen Strände der Saale niemals! Der Thüringer Wald wirkt auf uns verwöhnte Älbler und Schwarzwälder wie ein Holzanbaugebiet. Alternativ landeten wir beim Erfurter Dom, einem gewaltigen Meisterwerk mit gotischer Kathedrale gleich daneben. In Erfurt hatten wir schon zauberhafte Stunden verlebt. Jetzt war es rappelvoll, der Domberg war mit Theatergerüsten, blauen Kunstoffhütten und Kinderrutschen verstellt. Also die Kirchen besichtigt, einen Cappuccino genommen und hurtig die Flucht ergriffen. Weiter ging es zügig nach Süden, alle Schilder über der Saale helle Strände ignoriert, da die Landschaft des Erfurter Beckens flach, grau und staubig wirkte. Einzig der Städte wie Weimar, der Bachstadt Arnheim, Eisenach und einiger anderer wegen lohnt sich ein Besuch dieser Gegend. Und freie Unterkünfte gibt es auch in der Hauptreisezeit; das beste und beliebteste Essen ist die Thüringer Bratwurst.
Erfurter Dom
Bamberg
Eine relativ freie Autobahn brachte uns in immer grünere Gefilde. Fichtelgebirge, Frankenwald, Bayreuth, Kulmbach, ein Abstecher ins feierabendliche, pulsierende, Bamberg, das wie ein begehbares Mittelalter wirkt. 

Der Verkehr und die Umleitungen schleuderten uns von einem unbekannten Ort zum anderen. Völlig entkräftet hielten wir im bezaubend-verschlafenen Kurstädtchen Bad Windsheim an, um eine Unterkunft zu suchen. Wieder war es ein herrschaftliches Haus namens "Reichstatt", sehr liebevoll und elegant mit einem Spaliergärtchen und Balkons ausgestattet. In dieser Stadt wurden allerdings schon um 21.30 die Stühle hochgeklappt, und wer wie wir dann noch nicht schlafen gehen will, der muss sich
Bad Windsheim
mit einer Bar begnügen, in der die Dartpfeile flogen und kichernde Mädchen vor der Tür rumhingen, bis der Besitzer kam und zur Ruhe mahnte, was auch sogleich befolgt wurde. Auch in diesem Hotel das traumhafte Frühstück, bereichert durch diverse Salate. Ein Rundgang am sonnigen Morgen bestätigte den Einduck: ein wunderschönes fränkisches Städtchen mit unverdorbenem Lebensstil und netten Menschen. Wer Ruhe sucht, wird sie dort ganz gewiss finden!

Die letzte Etappe führte durch das Taubertal, nun wieder allmählich der Heimat zu. Flache, bewaldete Bergrücken, Weinterassen, Steinriegel, dann wieder kleine Seen, uralte Gemäuer und Brückenheilige, Schmetterlinge, Blumenwiesen und Ruhe. Allerdings geht die Ruhe so weit, dass die Gasthäuser ihre Köche schon um 13.00 nach Hause schicken, weil eh kaum noch jemand kommt. Das Paradies wird durch Entzug der Lebensgrundlagen, nämlich des Tourismus, erkauft. Und es ist ein wahres Paradies!
Röttingen
In Röttingen, von einer alten Stadtmauer umschlossen, gibt es Tore und Winkel, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Und alles überschattet von dem großen, uns sehr bekannten Rothenburg, das von Bussen und Touristen aus aller Welt tagtäglich zu Tausenden gestürmt wird. Man muss nur ein paar Schritte hinuntergehen und steht in einem Tal mit einem Himmel, der weiter und höher wirkt als der unsrige. Nicht umsonst hat der Dichter Eduard Mörike Bad Mergentheim zum Wohnsitz erwählt, denn im Tauberta sei das Klima günstiger. Hier regne es viel weniger als anderswo, erklärte uns heiter ein Mann, deshab gedeihe auch der Win so gut. Dort sollte man ein Häuschen haben, im Garten sitzen, nachdenken, schreiben, basteln, kochen, radfahren, mit dem Nachbarn schwätzen und ab und zu in die große laute Welt eintauchen, die reale und die virtuelle. Und sich dazwischen hin - und herbewegen wie ein Aal im glasklaren Bach. Oder wie ein Vogel, der ohen Rücksicht auf heimatliche Bande immer wieder nach Süden fliegt.

Rothenburg o.d. Tauber






Montag, 15. August 2016

Heute schon gekleckert?

In diesen Hochsommertagen sind wir als Bürger, die der Arbeitsfront entronnen sind, viel unterwegs. Da lässt es sich nicht vermeiden, bei einem Ausflug dann am Abend den knurrenden Magen füllen zu müssen. Ich gebe einmal drei Beispiele zum Besten: Neulich, im fränkischen Weißenburg, kamen wir am Nachmittag an, mit nur einem Croissant im Magen, den eine mürrische Bäckerin uns um 12.00 servierte, während die Kollegin schon draußen die Stühle mit einer Kette verriegelte. Fast zittrig vor Hunger liefen wir in einer Gaststube ein, die endlich um 18.00 geöffnet hatte. Es gab zweierlei Braten, nämlich Schweine- und Kalbsbraten mit dunkler Soße, Salat und Kartoffelknödeln. Normalerweise schaffe ich nur einen halben bis einen Knödel, diesmal waren es zweieinhalb. Und - es passierte nichts! Es ist nämlich so, dass mir manchmal ein kleines Malheur, besonders mit Soße und Salat, passiert. Schon als Fünfjährige in den Familienferien an der Nordsee musste ich mit Sonderlätzchen essen, daran erinnere ich mich noch genau. Vorgestern gab es wieder Salat, und zwar einen Kartoffelsalat vom Feinsten, in einem Gasthaus in der Nähe, das seit Jahrzehnten allerbeste Qualität liefert. Den Kartoffelsalat geben die Schwaben gern dem gemischten Salat zu, selbst wenn er als Beilage zu Linsen, Spätzle und Saitenwürstle dient. Dieser war die Beilage zu einem kleinen Schnitzel mit Pommes. Und siehe da, natürlich purzelte etwas Kartoffelsalat auf meine Hose. Besorgte Blicke meines Gegenübers. Die Flecken kann man, wenn es warm ist, später an einem Brunnen auswaschen. Und es hat auch keiner gemerkt. Drittes Beispiel: Ein Gasthaus an der Oberen Donau, das uns bisher ebenfalls nie enttäuscht hatte. Eine Salatpatte von der Reichenau, das klang gut und war dem heißen Wetter angemessen. Zu meinem Entsetzen waren der Karottensalat und der Krautsalat süß! Da steckten auch irgendwelche Obstbrocken aus der Dose drin. Dafür war der Kartoffelsalat sauer. Vor lauter Schreck fielen mir gleich bei den ersten Bissen Kartoffel- und Möhrensalatteile in den Schoß. Strafende Blicke meines Gegenübers. Doch dann musste er zugeben, dass dieser Salat wirklich verhunzt war. Doch das Kleckern, sah das nicht irgendwie behindert aus? Haben nicht schon alle rübergeschaut, weil diese Dame sich einfach nicht benehmen kann? Trotz hängender Nase gab ich der Bedienung auf die Frage, ob es recht gewesen sei, zur Antwort: Der Kraut- und der Karottensalat waren zu süß. Mit süßsäuerlicher Miene trug sie die Reste in die Küche und kam zurück mit dem Bescheid: Der Karottensalat sei mit Ananas angemacht gewesen. Andere Gäste hätten das heute schon vielfach gegessen und sich nicht beschwert. Und wieso der Krautsalat ...? Das hätte sich wohl vermischt, ein Wort gab das andere, wobei die Haltung gewahrt bleiben musste. Wir dampften ab mit dem Plan, dieses Gasthaus nie wieder zu besuchen.

Der langen Rede kurzer Sinn: Heute wollte ich herausfinden, was es mit diesem Kleckern eigentlich auf sich hat. Und stieß natürlich sofort, nein, nicht auf eine Studie, sondern auf den Erfahrungsbericht eines Journalisten, der zugibt, bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten zu kleckern. Das große Kleckern Es liege nicht an persönlicher Schussligkeit, lese ich da, sondern an der Fast-Food-Mentalität. Immer schnellschnell alles und natürlich sofort, Essen auf der Straße ist mega-in. Da könnte was dran sein, denn wenn ich früher einen Döner aß, schüttelte sich mein Sohn immer aus vor Lachen. Sollte ich die Kartoffelscheiben vielleicht lieber aufspießen, statt sie auf der Gabel zu balancieren? Und mir für Soßen und Salat einen Löffel geben lassen? Bei bäuchigen Menschen lande das Kleckergut waagerecht, bei Schlankeren meist auf der Hose, schreibt der Journalist. Und die Queen vermeide es grundsätzlich, Spagetti zu essen, womit sie sich um einen der Genüsse unserer Welt bringe. Ich habe auch aufgehört, mir weiße Soße auf den Döner geben zu lassen. Und ich werde nie wieder einen Berliner mit Messer und Gabel essen, auch wenn die Bedienung das Besteck auffordernd neben den Teller legt. Das war vor längerer Zeit im Schwarzwald. Und ja, zuguterletzt noch die Story beim Griechen, als der Saft der Zitrone, die ich hoffnungsvoll über dem duftenden Fisch ausdrückte, im Auge meines Gegenübers landete. Hahaha! Darüber lachen wir noch heute.
Wenn das Sitzen zu viel wird

Mittwoch, 10. August 2016

Wenn das Sitzen zu viel wird

Gestern in der Zeitung gelesen und auch im Netz gefunden: Die Deutschen sitzen zu viel, manchmal bis zu elf Stunden am Tag. Die Deutschen sitzen zu viel. Ups, dachte ich, das stimmt auch für mich. Im Job bin ich noch treppauf, treppab durchs Haus und auch öfter mit den Klienten in die Stadt gelaufen. Jetzt sitze ich zwar nicht mehr vor dem Computer als früher, aber auch genausoviel im Auto oder auf der Terrasse. Die Muckibude war für mich noch nie eine Alternative -aber gewisse Körperteile lassen schon von sich hören. Schreiben, Computerarbeit und Autofahren sind damit an und für sich ungesunde Tätigkeiten. Sie machen auf die Dauer krank und träge, wenn man dem nichts entgegensetzt. Ideen entwickeln kann man allerdings überall - sei es beim Spazierengehen, beim Wäscheaufhängen oder bei der Gartenarbeit. Monatelang waren die Outdooraktivitäten durch Unwetter usw. eingeschränkt. Mein Schwimmpensum hatte sich auf zweimal die Woche eingeschränkt, die Wanderungen auf etwa einmal die Woche, dazu tägliche Spaziergänge. Das habe ich jetzt wieder gesteigert. Am Sonntag waren wir stundenlang auf der schwäbischen Alb unterwegs. Heute bin ich den zweiten Tag infolge schwimmen gegangen und habe gemerkt, wie das erfrischt und beflügelt.

                                          

Sonntag, 31. Juli 2016

Die Wiederentdeckung des Savoir Vivre

Wenn einer für eine Weile das Tosen der großen Städte und des röhrenden Netzes verlässt, kann er auch ganz in seiner Nähe etwas entdecken und erleben. Unlängst besuchten wir wieder einmal unsere Nachbarstädtchen Wildberg und Neubulach. Das Wildberger Kloster Reutin (Museum) mit lauschigem Park und einem Kräutergarten ist ein Ort der Stille. Nur einige aufgeweckte Kinder spielten am kleinen See, zeigten uns die Kaulquappen und einen winzigen Frosch, der daraus hervorgegangen war. Die Burg Wildberg ist eine guterhaltene Ruine aus dem Mittelalter. Von hier aus hat man einen großartigen Blick ins Nagoldtal. Auf dem Weg nach Neubulach, einem alten Bergarbeiterstädtchen, kamen wir an der Lochsägemühle vorbei, deren Mühlrad noch in Betrieb ist. Vom darüber gelegenen Stausee stiegen zwei Wanderer herab. Es war ein Rentnerehepaar, er Sarde, sie waschechte Schwäbin. Sie genießen das Leben, das sah man ihnen an. Von Mitte Mai bis Mitte Juni und von Mitte September bis Mitte Oktober fahren sie in den Urlaub - nach Sardinien, nach Südtirol und zu weiteren schönen Zielen, die in der Nebensaison günstiger und nicht so überlaufen sind. Das und anderes hat uns dazu angeregt, nächste Woche mal wieder ins Fränkische zu fahren. Dort ist es menschenleerer und alles geht etwas lässiger zu, man kann wieder ein, zwei Tage durchatmen.

Montag, 11. Juli 2016

Vom profanen Glück des Speisens

Wenn man jemanden fragt, an welche Bücher oder sonstige Dinge er sich am besten erinnert, könnte man auch wissen wollen, an welche persönlichen oder öffentlichen Ereignisse, welche Menschen, denen er begegnet ist, welche Landschaften, Speisen oder Restaurants seines Lebens in seinem Gedächtnis am meisten verankert sind. Und noch vieles mehr. Meine Kinder-Lieblingsspeisen waren übrigens Spagetti, Kotelett und Grießbrei. Zwei dieser Speisen esse ich heute noch gern. Das früheste Hotel-Restaurant, das mir in den Sinn kommt, war eins auf Alsen/ Dänemark. Ich war zehn Jahre alt und mit der Familie im Urlaub. Da konnte man durch ein Wäldchen zu einem Kap gelangen und mit einem Sprung vom Steg in die klare Ostsee tauchen. In dem Hotel waren alle Speisen, die es gab, mit Sahne verfeinert Also es gab zuerst zum Beispiel eine Gemüse-Sahnesuppe, dann Schweinebraten mit Sahnesoße und schließlich Sahnepudding mit Sahne. Gottseidank war ich ein dünnes Kind, an dem das spurlos vorüberging. Mit Schaudern sah ich dann die Sahnereste im Schweinstall, wo sie von den grunzenden Widerborstern schmatzend vertilgt wurden. Das ist ein fetter Kreislauf, musste ich denken, denn schon damals haben mich Zusammenhänge interessiert.

Ob das ein Grundstein für meine spätere Ess-, Koch- und Restaurantbegeisterung gewesen ist? Geblieben sind die Bilder von den Weihnachtsessen im Wasserslebener Haus, die Aal-, Nordseekrabben- und Sildplatten, die bei uns Geschwistern heiß umstritten waren. Von der Weihnachtspute gibt es sogar eine Kurzgeschichte. Während des Studiums verfeinerte ich meine Künste, war regelmäßige Leserin der Kolumne des Zeit-Schmeckers Wolfram Siebeck, der ja zu meinem großen Bedauern gerade verstorben ist. Von ihm lernte ich, dass "der deutsche Salat eine nasskalte Beleidung heißen Fleisches" sei, und wie man aus Rehkeule zartes Ragout zaubert. Von ihm hatte ich auch das Rezept des 5-Stunden-Lamms, von dem einer der geladenen Freunde sagte, nachdem ihm das Fleisch von der Gabel gefallen war: "So gut habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gegessen!" Kaum ein Gericht dieser Welt war vor meinen Experimentierversuchen sicher, am liebsten aber waren mir immer die französischen Speisen. Und so wurden die Coq au Vins, die Bouef Bourgignons, Zwiebelsuppen, Muscheln in Weißwein, Pot au Feus, selbstgemachte Fleischfondues und Bäckeoffe lange Zeit zelebriert. Zur Fleichfondue gab es die Sauce mit Olivenöl, Knoblauch, Zitronensaft und Pepperoni, die ich den Gauchos in Argentininen abgeguckt hatte. Nach der (allerdings ungarischen) Gulaschsuppe für hundert Personen wurde ich am nächsten Tag von einer Journalistin angerufen und nach dem Rezept gefragt. Es war einmal und es war eine herrliche Zeit. Einzig die Bouillabaisse habe ich nie in Angriff genommen. Geblieben ist, dass ich mich heute noch echauffiere, wenn jemand sagt, zum Bäckeoffe hätte ich doch auch grüne Bohnen servieren können. In den besseren Restaurants konnte man damals immer gut essen, und in jeder Wirtschaft auf dem Land kriegte man zumindest eins von diesen Schnitzeln, dessen Panade sich in einer dunkelbraunen Soße wellte. Das und der obligatorische Schweinbraten sind heute nur noch in bayerischen Biergärten zu finden.

Dann kam 2002 der Euro, und bald darauf musste ein Drittel aller Restaurants schließen, weil der Euro immer mehr 1:1 mit der DM ging und die Leute sich das Essengehen nicht mehr leisten konnten. Die Expansion des Fastfood tat ein Übriges, und wenn wir heute auf der Suche nach etwas Essbarem über die schwäbische Alb fahren, haben alle Lokale, in denen wir jemals waren, geschlossen. Die wenigen, die blieben, sind hoffnungslos überfüllt. Danach sind wir dann wieder auf belegte Brote, Eier und Tomaten ausgewichen. Bei mir persönlich nahm die Kochbegeisterung mit der Begeisterung zum Schreiben ab. In den letzten sechzehn Jahren fehlte es immer mehr an Zeit und Muße zum Kochen. Zu meinem Erstaunen tauchte vieles wieder in den Büchern auf, zuletzt die Küche Ludwig des Dreizehnten in meinem letzten Verlagsroman. Wenn ich es so richtig bedenke, hat mich die Frage danach, was man hier eigentlich früher zum Frühstück aß und das Buch von Peter Lahnstein "Wie man einst in Schwaben lebte" dazu gebracht, historische Romane zu schreiben. Es ist aber nun nicht so, dass ich heute noch Kochbücher lesen oder mir pausenlos Rezepte runterladen würde. Vor Ewigkeiten, nachdem mir eine angeblich verzweifelte junge Frau ein Hör-Zu-Abo aufgeschwatzt hatte, kaufte ich mir einen Computer, weil in der Hör-Zu stand, man könne mit dem PC Emails in alle Welt schreiben und 235 Rezepte für Sauerbraten finden. Von der Möglichkeit, ganze Bücher zu schreiben und zu veröffentlichen, hatte ich zu der Zeit keine Ahnung.

Die kulinarische Welt ist sehr geschrumpft und heute vor allem in den Küchenschlachten des Mittagsfernsehens zu bewundern. Es ist gut, wenn man ein paar Stammlokale in der näheren und weiteren Umgebung hat, meist Familienbetriebe, die über Jahrzehnte gleich gute Qualität und inzwischen auch Mittagstische zwischen 6 und 10 Euro haben. Die sind aber mehr in den Städten zu finden. Die Landküche ist zu unserem großen Bedauern oft hoffnungslos verödet, die Wirtschaften tot mit verstaubten oder gebrochenen Fensterscheiben. Wie war das noch mit dem "Lecker aufs Land"? Da fuhr immer so ein lustiger Bus irgendwohin, vielleicht zu irgendwelchen Land-Wirtschaften, aber ich habe immer gleich ausgemacht. Jetzt sehe ich, worum es geht: Das sind Bäuerinnen, die sich gegenseitig einladen und bekochen, wahrscheinlich auch mit Stimmabgabe, wer am besten ....Lecker aufs Land. Die Masse der Fernsehköche kenne ich gar nicht, wie ich gestehen muss. Aber Johann Lafer, Vincent Klink, Tim Mälzer und die schon verstorbenen Werner O`Faist und Katrin Ruegg sind mir ein Begriff. Für meinen Teil bin ich froh, dass ich die Glanzzeiten der Kochkultur noch erleben durfte und freue mich, wenn ich in Altensteig, in Nagold, in Sulz am Neckar, in Imnau, in Frankreichs Provinz oder einem kleinen Ort der Toskana noch einen Zipfel davon abbekomme.

Mittwoch, 6. Juli 2016

Auf den Spuren der Vergangenheit

Kürzlich haben wir einen Abstecher nach Meersburg am Bodensee gemacht. Diese Stadt ist wie ein Gedicht des Südens, mit alten Bürgerhäusern, Kirchen, Türmen, Palmen, Blume und dem alles durchdringenden Blau des Wassers. Und so trifft man auch überall auf Historisches, nicht zuletzt auf die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff, die einige wichtige Jahre ihres Lebens im Meersburger Schloss verbracht hat und dort auch gestorben ist. Ich hatte einmal vorgehabt, über sie zu schreiben und kenne deshalb das Innere des Schlosses schon sehr gut. Für die vielen Touristen mag es ein Event sein, nach Meersburg und auf das Schloss zu gehen. Die meisten werden gar  nicht wissen, dass die größte deutsche Dichterin hier gelebt hat. Aber selbst diese Touristen scheinen sich von "alten Gemäuern" angezogen zu fühlen, sieht man sich einmal den Zulauf in Rothenburg, in Dinkelsbühl und anderen historischen Stätten an. Es weht ein Duft von Vergangenheit herüber. Wenn ich mir überlege, was ich in den letzten zehn, zwanzig Jahren gemacht habe, dann war es eine permanente Spurensuche. Spuren von Menschen, die einmal gelebt haben, von großen und kleineren Ereignissen, auch von Verbrechen, die manchmal erstaunlich denen heutiger Zeiten ähneln. Alles wiederholt sich in der Geschichte. Vielleicht ist es die Sehnsucht nach Beständigkeit, die dahinterstecken könnte? Nach dem Wissen darüber, woher wir kommen und wohin wir gehen?

Auf der anderen Seite gibt es neben der Zersörung von historisch gewachsenen Dingen auch die Sehnsucht nach unberührter Natur, nach Abenteuer und Selbst-Erfahrung. Warum sonst sollten Zehntausende auf den schwimmenden Pontons des Verpackungskünstlers Christo auf dem Iseo-See gewandelt sein? Warum ist das zweite Buch des Försters Peter Wohlleben (von 2014) "Die Gefühle der Tiere" wieder auf Nr.1 der Spiegelbestsellerliste gelandet? Irgendwo scheint doch eine Sättigung eingetreten und der Wunsch nach dem Einfachen, das uns umgibt, nach Sinneserfahrung, entstanden zu sein. Bekanntlich habe ich mich mein Leben lang in der Natur, in einer historisch gewachsenen Umgebung und unter offenen, zugewandten Menschen immer am wohlsten gefühlt. In meinen Träumen gab es Industriegebiete und alte Städte mit intakter Umgebung. Aus den einen bin ich geflohen, die anderen waren "Heimat", in der man sich entfalten konnte. Genau, Heimat ist wie schon mal gesagt von einem Unwort zu einem Begriff mutiert. Alte Werte neu belebt. Es wird geheiratet wie nie zuvor, in Baden-Württembeg engagiert sich jeder zweite ehrenamtlich. Es ist eine Antwort auf die Ereignisse der Welt. Ich selbst mache jetzt bei der Aktion "Autoren helfen" mit, werde jeden Monat eins von den vielen Belegexemplaren meiner Bücher, meiner Spurensuche, an einen Paten der Flüchtlingsorganisation schicken.

Sonntag, 26. Juni 2016

Auszeit: Reisen, Romane schreiben, Rosen züchten

Vor einigen Tagen, genauer gesagt am bisher heißesten Tag des Jahres, fuhren wir bei ca. 34° ein Stück in den Schwarzwald hinein, Richtung Alpirsbach. Dabei landeten wir ganz unvermutet in einem kleinen Paradies. Ein Moorsee mit Felswänden und Wasserfall, vorne ein weißer Sandstrand, eine Hütte und ein Badesteg. Natürlich waren wir nicht alleine da. Aber das wäre so ein Ort für eine kleine Auszeit. Daneben ist mir ein altes Buch in die Hände gefallen, von einem Vater, der in den vierziger, fünfziger Jahren mit seinen drei Söhnen durch den Schwarzwald, durch die Vogesen, den Bregenzer Wald und durch das Schweizer Jura gewandert ist. Das waren noch echte Auszeiten, ein Leben nur in der Natur, in Hütten und auf Bauernhöfen, Sonne, Regen und Stürmen ausgesetzt. Der Autor namens Fritz Hockenjos wurde 1927 in Lahr geboren und war seit 1947 Förster in St. Märgen im Schwarzwald. Er beschreibt diese Wanderungen, die Flora und Fauna, die Erlebnisse und Begegnungen in einer fast expressionistischen Sprache, bei der man das Gefühl hat, alles zu sehen, zu hören, zu riechen und mitzuerleben. Aber auch damals schon kündigte sich das Desaster der Menschen an: die zerschossene Gräberstätte am Hartmannsweiler Kopf, die Düsenjets, der allmählich aufkommende Massentourismus auch in den Vogesen und im Schwarzwald. Und auch damals gab es Extremregen und Gewitter, nur nicht so zerstörerisch wie gerade jetzt. Das alles zu lesen, und überhaupt Bücher zu lesen bedeutet eine echte Auszeit. Der menschliche Organismus und vor allem seine psychischen Strukturen sind nicht darauf angelegt, sich wochen -, monate - und jahrelang ständig negativeren Bildern und Informationen auszusetzen, ohne irgendwann zu streiken. Irgendwann muss er mal ein Ventil auf den Dampfdrucktopf setzen, um die Flut von Gewalt, Morden, Elend, Flucht, Brexit und immer verhehrenderen Naturkatastrophen zumindest zeitweise auszusperren, um nicht zu verzweifeln. Gestern sind wir mit knapper Not einem Unwetter entkommen, das sich wie eine überdimensionale Krake von allen Seiten über der Stadt zusammenbraute, tintenfischschwarz und kurz davor, Tentakeln oder Tornadorüssel zu bilden. Abends dann die Bilder von weinenden Menschen in Pfullingen, in Stromberg, flüchtende Besucher des Southsidefestivals in Neuhausen, ein entgleister Zug, Verletzte und tausende total Frustrierte. Unwetter in Deutschland. Die entgleiste Natur macht jetzt eine Pause, aber es ist nicht abzusehen, wie es tatsächlich weitergeht. Deshalb sollte jeder eine Nische finden, in der er wieder atmen kann, um sich gestärkt seinen Aufgaben widmen zu können.

Früher gab es das sogenannte Sabbatjahr, in dem man ein halbes oder ein Jahr lang mit der Arbeit aussetzen und sich in dieser Zeit ganz anderen Dingen widmen konnte. Ein Buch habe ich dazu gefunden, dessen Titel lautet: "Reisen, Romane schreiben, Rosen züchten" mit Tipps für eine solche Zeit. Reisen ist immer o.k., das habe ich sehr viel getan in meinem Leben. Und Romane geschrieben. Romane schreiben könnte eine gute Beschäftigung während einer Auszeit sein, doch das Veröffentlichen derselben sollte man nicht da hineinlegen. Und Rosen züchten bedeutet ganz viel Fachwissen und Arbeit - ich habe zwar welche in meinem Garten, erfreue mich aber lieber an ihren Blüten, als sie zu züchten. Nach dem Probelektorat habe ich den Krimi erstmal in die Dateien zurückgeschickt und den neuen Roman nicht weiterentwickelt. Im Self Publishing würden sie niemals die Kosten wieder einspielen, abgesehen davon, dass kaum jemand sie in den Shops wahrnehmen würde. Aber ich finde den Gedanken faszinierend, dass man einzelnen Lesern mit seinen Büchern eine Auszeit verschaffen kann - wie es dieser so lebendig schreibende Förster bei mir erreicht hat. Und deshalb werde ich den Gedanken, Bücher zu schreiben, nie ganz aufgeben.

Dienstag, 21. Juni 2016

Was braucht das Schwein, um sich sauwohl zu fühlen?

Woran denken wir, wenn wir uns ein Schwein vorstellen? An ein rosiges Tier mit Borsten, mit Ohren, die über den listigen Äuglein zusammenfallen, ein Tier, das grunzend und schmatzend seine Bestimmung im Koben erfüllt? An die Muttersau mit vielen nuckelnden und drängenden rosigen Ferkeln an der Seite? Oder an ein dreckverschmiertes Untier, das sich, wie auch die wilde Sau, in Schlamm und Morast herumwälzt? An Kotelett, Schnitzel und Rippchen wohl eher nicht. Das gleiche könnte man sich fragen, wenn man an Kühe oder Hühner denkt. Die Kühe stehen auf der Wiese, gucken dumm und käuen ewig und drei Tage das Gras wider. Sie wedeln mit dem Kuhschwanz, um die lästigen Fliegen zu vertreiben. Pferde haben wenigstens noch eine saumäßige Lebenslust, wenn sie auf der Koppel herumgaloppieren. Und die Hühner sind glücklich, wenn sie genügend Auslauf haben, miteinander picken, solange auch die anderen picken, und zum Dank dafür, dass sie kein Habicht oder Fuchs geholt hat, brav ihre Eier legen.

In der Versuchanstalt Eningen, einer Außenstelle der Universität Hohenheim, haben jetzt Forscher die Bedingungen untersucht, unter denen sich Schweine richtig wohlfühlen. Die Ferkel haben in der linken Box eine Kette zum Spielen, in der rechten ein Feld mit dunkler Erde zum Wühlen. Brauchen sie mehr Platz, besseres Futter, Freunde, Auslauf, Licht, gar Musik? Es wurden viele Dinge getestet, auch Bedingungen, die Stress auslösen, man ist erst ganz am Anfang. Aber Verbraucher wollen Fleisch, Eier und Milch am liebsten von glücklichen Tieren. So, wie es die Pensionswirtin in Sipplingen am Bodensee einmal beim Frühstück sagte, als sie die Eier hereinbrachte: Die sind von glücklichen Hühnern. Dabei sah sie selbst richtig glücklich aus. Und ich erinnere mich daran, dass ich als Kind mit meiner Oma in Malente morgens immer in den großen,, umsäumten Verschlag ging, um die noch warmen Eier einzusammeln und den Hühnern nachher ihr Futter hinzustreuen. Versteht sich, dass die Oma auch den besten Knackerkirschbaum alles Zeiten besaß! Doch zurück zu den Tieren und ihren Bedingungen. Bis jetzt hat sich herausgestellt, dass die Schweine nicht mehr Platz brauchen, wie wir uns das vielleicht gedacht haben. Erste Erkenntnisse zeigen, dass "Beschäftigung, Aufgaben lösen, Türen öffnen oder in der Erde wühlen" den Schweinen wichtiger sind als ein paar Quadratmeter mehr Raum. Gleichwohl wird es mit den anderen Tieren sein: Das Huhn will picken und scharren, die Pferde wollen rennen, die Kühe laufen am liebsten auf weichen Matten (sprich: Gras), Hunde wollen spielen und sich austoben und Katzen suchen gern ein erhöhtes, warmes, trockenes Plätzchen, wenn sie nicht auf Beute lauern, spielen oder schnurrend um Beine streichen.

Wie sieht es nun mit den Menschen aus? Was brauchen die, um sich sauwohl zu fühlen? Schopenhauer sagte ja mal in etwa, die Natur habe ihnen das Dasein gegeben, für das Wohlsein müssten sie selber sorgen. Dabei kann ich zunächst einmal nur von mir selbst ausgehen. Beschäftigung, Aufgaben lösen, Türen öffnen und in der Erde wühlen ist schon einmal was. Wobei es nicht um meine Gartenerde geht, sondern sozusagen um den Acker, der zu bestellen ist. Ich als Mensch würde mich mit der tierischen Bedürfnisbefriedigung natürlich nicht zufriedengeben. Aber die Grundlage ist dieselbe. Es würde mir nichts nützen, in einem Palast zu wohnen, indem ich den ganzen Tag herumsitze und mich fragen muss, wozu ich eigentlich da bin. Meinen Acker zu bearbeiten heißt, mein Leben so zu gestalten, wie es meinem Wesen entpricht. Ich fühle mich sauwohl, wenn ich ein gutes Buch lese, wenn ich über Berg und Tal laufen kann, in glasklarem Wasser schwimme, wenn die Sonne scheint, ein gutes Essen lockt, wenn nette Menschen um mich sind und wenn ich schreiben kann und eine Reaktion darauf sehe. So entdeckte ich gestern eine 5-Sterne-Rezension einer Frau, die mein letzes Verlagsbuch gelesen hatte. Sie schreibt, es sei eine Geschichte über die kleinen Leute im Dreißigjährigen Krieg, historisch verbürgt, spannend geschrieben und voller Liebe zum Leben. Es ist selten, dass jemand meine Intentionen so deutlich erkennt und benennt. Und es hat mich so beflügelt, dass ich endlich eine Entscheidung treffen konnte: Ich habe meinen Schwarzwaldkrimi in ein Probelektorat gegeben und werde ihn dann entweder endgültig zur Seite legen oder veröffentlichen. Den neuen Roman werde ich weiterentwickeln. Und mich sauwohl damit fühlen.

Montag, 13. Juni 2016

Rock und Blues im Schwarzen Wald

Heute einmal ein Zwischenthema, etwas spezieller für die Liebhaber alter Rockmusik und für Anrainer des nördlichen Schwarzwaldes. Dafür kulturell super und nachhaltig entspannend! Wenn die einzige gute Nachricht der letzten Zeit darin besteht, dass Basti ein sensationelles Tor geschossen hat, muss ich mir ernsthaft überlegen, ob es nicht noch andere Dinge gibt, die dem geplagten Individuum zu mehr Ruhe und zu mehr "positivem Denken" verhelfen (außer dem Schreiben, natürlich).

Am Samstag waren wir zu einer Rock - und Bluesveranstaltung im Schwarzwald eingeladen. Mein Freund, der Drummer, hatte vor einiger Zeit einen Musikerkollegen wiedergetroffen, mit dem er vor 30 Jahren Musik gemacht hat. Sie hatten sogar als Vorgruppe von Wolle Kriwanek gespielt. Im strömenden Regen erreichten wir das Festspiel-Haus der Kulturwerkstatt Simmersfeld. Diese Werkstatt hat eine Erfolgsgeschichte hinter sich. Schon 1983 von einigen engagierten Bürgern gegründet, wurde im Jahr 2004 ein eigenes kleines Festspielhaus gebaut. Dreiunddreißg Jahre Kultur in einer Gegend, die nach den Römern eher von Räubern, Wölfen und Bauern bevölkert wurde, die mehr auf den eigenen Schinken im Rauch schauten als nach anderen Menschen. Auch heute noch besteht die Kultur häufig darin, Touristen in einer entsprechenden Tracht und mit entsprechenden Preisen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Aber es gibt natürlich noch viele ähnliche Ansätze wie diese Kulturwerkstatt. Eigentlich war der Abend als Open Air geplant gewesen, doch zum Glück gab es eine halb überdachte Terrasse, unter der die Würstchen gebraten werden konnten. Die Musiker von der Rock- und Bluesband Dr. Gonzo spielen ebenfalls schon seit mehr als 25 Jahren zusammen, einige gingen, neue kamen hinzu. Die zweieinhalb Stunden waren für mich ein Vorbeimarsch. Endlich mal wieder eine Musik, bei der Füße und Hände unwillkürlich zu zucken beginnen! Ein Haufen E-Gitarren mit wechselndem Einsatz, eine Akustikgitarre, Bassgitarre, Schlagzeug, K-Board,  Saxophon und ein bisschen Percussion. Wunderbar die Slapstick-Einlagen mit einem fiktiven Udo Lindenberg und der "Polizei"! Glückliche Gesichter, ein wunderbar entspanntes Gefühl, Vergessen des allgemeinen Chaos ringsum. Unter anderem Lieder der sechziger bis achtziger Jahre von Eric Clapton, Free, Bad Company, "Summer in the City" von The Loving Spoonful, und eigens für meinen Drummer ein Bluesharp - Solo von John Mayell. Letzterer hat gerade mit 80 wieder eine Platte herausgebracht, wie ich erfuhr. Die "alten Rocklegenden" haben Bestand, wie es scheint. In der Literatur ist es u.a. der Schwabe Felix Huby, der seit seinen 30er Jahren Bücher veröffentlicht, unter anderem die Bienzle-Folgen im "Tatort". Jetzt hat er einen Folgeband zu den "Heimatjahren" herausgegeben: Lehrjahre in Blaubeuren. Trotz der Fußball-EM waren ca. 50 Leute nach Simmersfeld gekommen, das Nischenpublikum per se und eine eingeschworene Gemeinschaft. Die Gruppe tritt am Samstag, den 16. Juli 2016 beim Musiksommer auf dem Saumarkt Altensteig um 21.30 wieder auf. Sie haben auch noch ganz andere und eigene Stücke im Programm. Hier auch noch ein Hinweis auf die Veranstaltung "Calw rockt" am 24 Juni 2016 auf dem Marktplatz, seit vielen Jahren initiiert vom Hessefan Udo Lindenberg. Mein persönlicher Tipp: Rock mal wieder, um dich von den Anstrengungen des Schreibens und den Qualen des Nicht-Schreibens zu erholen!

Mittwoch, 8. Juni 2016

Zwischenzeiten

Mit Erstaunen habe ich festgestellt, dass mein letzter Eintrag jetzt schon zehn Tage zurückliegt. In dieser Zeit wurden große Teile Europas von Unwettern heimgesucht, die von einem Wettersprecher heute als "äußerst ungewöhnlich" bezeichnet wurden. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass jemals so lange solche Wassermassen aus solchen ständig stärker drohenden Wolken geschüttet wurden, dass es in Landstrichen wie Scheswig-Holstein zur Bildung von sogenannten Wolkenrüsseln sprich Tornados kommen kann und das alles vor dem Hintergrund von Krieg, Gewalt, Terror, Fußball-EM und einem Staatsoberhaupt, das dank eines fraulichen Schulterschlusses zum Herren Europas mutieren will. Ich wollte eigentlich über etwas ganz anderes schreiben, doch dazu später.

Die Natur kennt kein schlechtes Wetter, so lernte ich kürzlich. Es sind die Einrichtungen der Menschen, die schwer beschädigt werden können, wenn alles außer Rand und Band gerät.  Und es gab Todesfälle, die ich außerordentlich bedauere. Während ich früher Gewittern eher sorglos gegenüberstand, sie sogar als spannend empfand und stundenlang am Fenster stehen konnte, nötigen sie mir inzwischen einen gewaltigen Respekt ab. Ich finde auch nicht, dass Hausbesitzer Pflichtversicherungen abschließen müssten, wie unser Landesvater Kretschmann fordert. Damit wäre der Staat dann nämlich ziemlich aus dem Schneider. Lieber sollten sie die versiegelten Flächen renaturieren, den Überlauf oben an den kleinen Bächen verbessern und ihre Monokulturen mit Mais und Ähnlichem überdenken! Unsere Gegend, wennwohl ganz dicht am Schwarzwald gelegen, hat es weniger getroffen. Am Sonntag wurde der Kreis Calw zwar vom Fernsehfrosch als Katastrophengebiet erwähnt -mit 40 Liter Wasser auf den Quadratmeter - aber die Bäche und Flüsse schwollen nur unverhältismäßig an. Als sich also am Sonntag gegen Mittag der ständig rauschende Schleier hob und eine blasse Sonne durch den Dampf spähte, hörte ich immer wieder, stundenlang, die Sirenen von Feuerwehren. Da werden ein paar Keller vollgelaufen sein, dachte ich, oder die Nagold ist über die Ufer getreten. Hoffentlich ist nichts Schlimmeres passiert. Katastrophentouristin wollte ich nun auch wieder nicht spielen. Gegen später fuhr ich mit dem Auto zur Stadt, um mir ein wenig Bewegung im Badepark zu verschaffen, die Glieder waren ja schon ganz steif vom vielen Herumsitzen. Da sah ich, dass die Feuerwehr einen Tag der Offenen Tür feierte. Und just in diesem Moment sauste eine Feuerwehr mit Tatütata an mir vorbei, aus dem Fenster schaute ein Kind. Das Fahrzeug bog auf die Straße zum Fluss, der aber gar nicht über die Ufer getreten war. An diesem Ufer ging jemand mit einem Kinderwagen spazieren. Ich kam mir vor wie in einem Science Fiction. Später geschah auch noch ein Unfall auf der Strecke, aber wieder nicht wegen des Wassers. Morgen soll es vorbei sein mit der Heftigkeit, aber heute schwammen wir noch einml in einer braunen Brühe eine abschüssige Straße hinab. Die letzten zwei Wochen habe ich als absolut grenzwertig in Erinnerung, als würde ich durch mein Fenster auf eine Apokalypse schauen, als wäre die Welt kurz vor ihrem Untergang gewesen. Aber die Natur selbst kennt kein schlechtes Wetter, um auf das Eingangsstatement zurückzukommen. Die Schnecken zum Beispiel fühlten sich in ihrem Element. Und so habe ich auch keine weiteren Verluste zu beklagen als den Schneckenfraß an ein paar Tomaten - und Paprikastöcken.

Die wenigen sonnigen Tage haben wir für Ausflüge und Wanderungen genutzt. In einer Bücherkiste entdeckte ich das Buch von Renate Feyl über Sophie de la Roche, der Autorin, die ihre Familie im 18. Jahrhundert durch Schreiben über Wasser gehalten hat. Die profanen Stunden des Glücks. Dabei entdeckte ich, dass ich vor drei Jahren schon einmal darüber berichtet hatte: Wie man einst vomSchreiben lebte. Die Lektüre hat mir außerordentlich gut über diese Zwischenzeiten hinweggeholfen. Ergänzend zu meinem damaligen Bericht kann ich sagen, dass der Literaturbetrieb dem heutigen nicht ganz unähnlich war. Allerdings mit einem nicht unerheblichen Unterschied bei den Lesern und Leserinnen. Mit "Fräulein von Sternheim" hat Sophie de la Roche einen neuen Typ Frauenroman geschrieben, nämlich den einer Frau, die ihren eigenen Weg geht. Das fanden vor allem die Damen des Hofes und die "gehobene Gesellschaft" so toll, dass sie die Autorin feierten wie einen Star. Das dicke Geld verdiente sie aber mit der Zeitschrift "Pomora", weil die russische Zarin Katharina einen Haufen davon bestellte und sie verteilte. Mit der Zeit aber, die durch die Ereignisse in Frankreich immer stärker beeinflusst wurden, ging der Umsatz der Zeitschrift zurück, weil die erzieherischen Frauenthemen zu verstaubt wirkten. Sophie de la Roche überzeugt als Gesamtlebenswerk, als Schriftstellerin, die Manuskripte von Goethe, Schiller, Wieland und anderen vorgelegt bekam und von fast allen verehrt wurde. Sie hat ihren Mann, ihren Lieblingssohn und ihre Lieblingstochter verloren und sich dennoch sechzigjährig auf Reisen durch Europa gemacht, über die sie berichtete und mit denen sie sich durchbrachte. Ihr Name ist in Literaturkreisen geläufig, wenn auch Schillers "Räuber" und Goethes Werke heute noch bekannt sind und im Theater gespielt werden.
Hummelragwurz am Rand des Schwarzwaldes


Stadtmauer von Dinkelsbühl

Falls ich jemals noch eine Anwandlung bekommen sollte, wäre die Zeit von ihrer Geburt, die platonische Liebe zu Wieland, ihr Verweilen auf Schloss Warthausen bei Biberach sowie die Zeiten im Schloss von Bönningen (wo sie das Fräulein von Sternheim schrieb) noch "frei". Vielleicht erinnere ich mich daran, wenn wieder einmal der Sturm ums Haus tobt, die Regentropfen gegen die Fenster klatschen und die Vögel angstvoll davor herupiepsen. Apopos Vögel und Unwetterzeiten: Es muss die Tiere wirklich verrückt machen. Ein Storch im Brandenburgischen hatte kürzlich, so stand es in der Zeitung seine geliebte Störchin an einen Rivalen verloren, der dick und fett in seinem Nest saß. Der Storch klopfte an alle Fenster des Dorfes und hackte auf Autos ein, weil er in der Spiegelung seinen Nebenbuhler zu sehen meinte. Ich weiß nicht mehr genau, wie das endete. Vielleicht vertrieb er den Rivalen aus dem Nest und hockte dann alleine dort.