Samstag, 26. März 2016

Ostern 2016

"Die Einschläge kommen immer näher" - diesen Titel hätte ich einem Beitrag in meinem Blog geben können, wenn ich mich in den letzten Tagen nicht fast total aus den sozialen Medien zurückgezogen hätte. Im Realleben stelle ich fest, dass die Menschen wieder enger zusammenrücken. Noch nie habe ich so viele Anrufe bekommen wie in diesen Ostertagen. Man will sich wieder treffen. Man ist froh, dass man in einem stinklangweiligen Kaff auf dem Land lebt. Die Terroristen und alle Gewalttäter sollten auf den Mond geschossen werden. Meine Nachbarin und ich sind sehr traurig, dass "unsere" weiße Katze überfahren worden ist. Innerlich singe ich alle Katzenlieder, die ich je gelernt habe, wie das Kind im Wald. Wir freuen uns, dass ein Musikerfreund den Krebs überlebt hat und bald ein Blueskonzert geben will. Leben künftig nur noch in Nischen? Aber wir wissen, dass auch der Krieg für unsere Vorfahren zum Alltag wurde. Die Deutschen meiden Gefahrenländer, sie meiden Massenansammlungen und Massenfortbewegungsmittel. Alle wollen nur noch nach Spanien oder in Deutschland Urlaub machen. Das führe zu vermehrten Staus. Wer, wie mein Sohn, über Ostern nach Teneriffa fliegt, setzt sich erhöhten Gefahren aus. Und doch spüre ich in meinem Umfeld, selbst auf der Straße nicht, in den Städten nicht die Bedrohung. Alles geht seinem Alltag nach, der Krieg kommt über den Fernseher herein, den kann man wieder abschalten. Und das ist auch gut so. Petra van Cronenburg hat die Situation sehr eloquent beschrieben. Da hilft nur Fugenkitt.
                                                                           
An diesem strahlend schönen Ostersamstag, den wir für einen Ausflug nutzen wollen, wünsche ich allen meinen Lesern ein schönes Fest und viel Resilienz und Freude an anderen und den guten kleinen Dingen, die ja nach wie vor da sind.

Dienstag, 15. März 2016

Ein Hauch von Mord und Politik

Im sogenannten "Europakindergarten", in dem ich während der siebziger Jahre arbeitete, sollte ein Konzept der Integration entwickelt werden, was auch ansatzweise gelang. Selbst die holländische Königin hatte einen Scheck spendiert. In dieser Zeit gab es als Material zwei Bilderhefte für die deutschen und ausländischen Kinder. Eines hieß: Hier fällt einHaus, dort steht ein Kran, und ewig droht der Baggerzahn. Die Veränderung der Stadt Das andere: Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder. Die Veränderung der Landschaft.  Diese Materialien haben mich und auch meinen Sohn, der damals selbst noch im Vorschulalter war, nachhaltig beeindruckt. Und die Fakten, die dort geschildert werden, haben auch heute noch und für die Zukunft ihre Gültigkeit. Es gibt sehr viele schöne Beispiele, wie neue Häuser in alte Bezirke integriert werden, ohne die gewachsenen Silhouetten zu zerstören, oder wie Landschaften verändert werden, ohne ihnen den ureigenen Charme zu nehmen. Meist aber steckt Profitgier im Rucksack der Planer bzw. die Spardiktion des jeweiligen Gemeinderates.

Auf meiner Fahrt durch die ganze deutsche Republik sollte ich einen Ausschnitt dieser Welt erleben. Unser grüner Landesvater hatte vor seiner Wahl unter anderem versprochen, die alten Straßen und Brücken zu sanieren statt neue zu bauen. Das hat er auch getan und zum Dank, in Verbindung mit seiner Haltung gegenüber der Flüchtlingspolitik und gegenüber der AfD, nun einen dicken Bonus der Baden-Württemberger erhalten. Davon konnte ich mich auf der Bahnfahrt am Wochenende überzeugen: Alle Bahnhöfe bis rauf nach Mannheim waren im baulichen Ausnahmezustand! Der terroristischen Gefahr wird damit begegnet, dass man wieder in allen Zügen die Fahrkarten kontrolliert, so richtig mit Knipser und zusätzlichem Personal. Auf den Bahnhöfen patroullieren große, starke Polizisten ganz in Schwarz mit Pistolen im Halfter. Sie drängen sich an den Tresen der Kaffebars, um sich mit Espresso zu stärken. Und trotzdem kann man die Fahrt genießen. Ab Hamburg geht es in die meerumschlungene schleswigholsteinische Knick-und Seenlandschaft hinein. Dort wohnen nur Bauern, Schafe, Kühe und Pendler. Der Nord-Ostseekanal zieht sich unverändert unter der eisernen Brücke dahin (die nach dem Unfall mit der Schwebefähre wieder repariert wurde). Dann setzt die individuelle Erinnerung ein: Süderbrarup, Tarp, der Fernsehturm der alten Hafenstadt Flensburg kommt in Sicht. Und der Bahnhof ist noch der alte, mit modernen Fahrkartenautomaten und Schnickschnack der Waterkant in den Schaukästen. Moin, moin, hört man hier allerorten. Wir werden von einem alten Freund meines Vaters abgeholt. Auf dem Kirmesplatz oberhalb meines Gymnasiums, der "Exe", stehen jetzt bunte Container für die Flüchtlinge. Das Haus in Kupfermühle, oberhalb der Krusau, sieht unverändert aus. Wir beziehen die Ferienwohnung und wandern durch das alte Kupfer- und Messingdorf, durch die stillgelegte Fabrik in den dänischen Wald hinein. Einfach so, da stehen schon lange keine Schlagbäume und Zöllner mit Schießwaffen mehr. Und die Schusterkate mit der Krusaumündung, mit den Booten, dem Schilf, der Brücke, den Zollhäuschen und den schmalen Sandstränden sind noch dieselben wie damals, ich habe es gewusst. Hier hat die europäische Union sehr gute Arbeit geleistet, hat Wege durch das "Tunneltal" angelegt und Schilder aufgestellt. Im letzten Krieg wurden hier viele Flüchtlinge über die Grenze gebracht, fast alle dänischen Juden wurden von der Widerstandbewegung gerettet. (Parallel dazu las ich übrigens die "Mitternachtsfalken" von Ken Follet, der sich mit eben dieser Widerstandsbewegung beschäftigt hat).

Der Strand von Wassersleben, im Hintergrund das Hotel Ganther


Das Einzige, was sich verändert hat, ist ein mordshässlicher Bau in Wassersleben, mit einem Seepark zur Förde hin. Hier stand einmal das etwas marode Sommerhaus von weitläufigen Verwandten von uns. Und jetzt sieht man im Geist eine Hand, die aufgehalten wird, denn die Appartments dieses Hauses werden für sage und schreibe 700 000 Euro pro Stück verkauft! Die Ferienappartments in der Bucht vor dem riesigen weißen Strand wirken düster und einfallslos, und es sind noch einige dazugekommen. Sonst ist dort, außer Hotdogs, drei dänischen Fleggards, einem Griechen und einer kleinen Kneipe bei der Kupfermühler Fabrik nichts los. Kein Wunder, dass in dieser düsteren Siedlung einmal ein Mord geschah. Und der Besitzer des Hotes an der Grenze, heute ein Best Western Hotel, hatte ebenfalls kein Glück mit seinem Reichtum und seiner Berühmtheit bis hin zum amerikanischem Präsidenten: Er ging eines Nachts hin wie Richard Cory und schoss sich eine Kugel in den Kopf. Das Wassersleben meiner Kindheit wurde in den letzten Jahrzehnten zugewuchtet mit monströsen Bauten, aber das wusste ich ja schon.

Am anderen Morgen wanderten wir unter Hochnebel an der Krusau entlang zur "dänischen Grenze". Ungehindert konnten wir wieder von Deutschland nach Dänemark wechseln. Die alten Gebäude waren abgerissen, aber eine Baracke stand da, von der aus die Autofahrer kontrolliert wurden. Die ganze Gegend ist total verödet. Die alte Zollstraße, an deren anderem Ende unser Elternhaus stand und noch steht, wurde nach dem Krieg "Bananenallee" genannt, denn dort konnte man in Buden alles das kaufen, was rar geworden war. Aus den Buden wurden Geschäfte mit Spielzeug und Lebensmitteln, daraus schließlich entstanden die "Fleggards". Ein Fleggard ist ein dänischer Discounter, in dem man vor allem Alkohol, Kosmetika, Spielzeug, Krimskrams, riesige Fleischstücke, Süßigkeiten und Zigaretten erhält. Das muss man an einem Sonntagvormittag mal erlebt haben: Da drängeln sich die Menschen, vor allem Dänen, in den Gängen, fahren mit riesigen Einkaufswagen dreilagige Bierbatterien heraus, die Schnapsflaschen im Körbchen oben drin, und stehen stundenlang an den Kassen. Ein Rest von dem, was wir suchten, war noch erhalten. Es gab noch den Makrelensalat, den roten und weißen Appetitsild und die knallroten Hotdogwürste, aber alles in überdimensionalen Gläsern und Portionen.

Der Wind hatte die Wolken inzwischen aufgerissen, ein wunderschöner blauer Himmel spannte sich über dem tiefblauen Meer, aber dieser eiskalte Wind riss einem auch den Atem weg. Hinter einer Hecke rief jemand: "Ach, das ist aber schön, dass ich dich auch noch einmal sehe!" Wir spähten hinter die Hecke und entdeckten eine etwa 90jährige Frau, eine Freundin meiner Eltern, die mich aus Kindheitstagen kannte und wiedererkannt hatte. Ein Viertelstündchen plauderten wir vergnügt, dann ging es zu den (ebenfalls sehr dicken) Rindsrouladen unserer Gastgeber. Später fuhren wir zum Flensburger Hafen. Hier war alles noch wie vor dem Krieg, bis auf die Appartments auf der anderen Seite, und um das ganze Hafenbecken herum fand ein großer Fischmarkt statt, der sich ungeheurer Beliebtheit erfreute. Und die Gerüche nach Aal und Zuckerwatte, nach Krabbenbrötchen, Bismarkhering und geräucherten Schillerlocken, die Cafés in der Sonne und die alten Schiffe machten diesen Markt einmalig. Fast bedauernd zogen wir zum Bahnhof weiter, von dem aus uns ein Intercity zurück nach Hamburg und der schnelle ICE nach Frankfurt bringen sollte.
                                                           

Fahrt in die alte Heimat - vor der Abreise
Reise in den Norden -noch mehr Eindrücke und Bilder im Ausflugsblog

Donnerstag, 10. März 2016

Fahrt in die alte Heimat

Meine Schwester und ich (rechts)
Das Wort "Heimat" ist ja heute wieder salonfähig geworden, während man bisher damit etwas Dröges, Nationales, Eigenbrödlerisches und Langweiliges assoziierte. Im Fernsehen werden andauernd Expeditionen in die Heimat unternommen. Ich wollte mich nun für ein paar Tage verabschieden, weil ich morgen -via Frankfurt - in meine alte Heimat Wassersleben bei Flensburg fahre. Da bin ich geboren und kehrte mit sechs Jahren von Forchheim/Erlangen dorthin zurück. Seit sieben Jahren bin ich dort nicht gewesen. Das Elternhaus, umgeben von einem riesigen Garten und dem Wald, aus dem immer die Rehe und Igel kamen, ist schon lange "in gute Hände abgegeben". Sehr viel kann sich in Wassersleben/Kupfermühle nicht verändert haben, denn es war damals schon durch den starken Zustrom der Dänen verändert. Auf den Kaufladen, den Fleischer und den Bäcker meiner Kindheit folgten fast übergangslos die "Buden" für die Transitwaren Alkohol, Zigaretten, Kosmetika und Süßigkeiten, darauf wiederum zwei große Supermärkte mit diesem Angebot. Die Dänen, so erzählten wir uns unter vorgehaltener Hand, fuhren damals immer den ganzen Tag zwischen Flensburg und Kollund hin und her, weil der Alkohol in Dänemark zu teuer war, um sich ein Räuschlein anzutrinken. Der Naturstrand wurde aufgeschüttet, Ferienwohnungen und touristische Anlagen wurden gebaut, und schon lange führt eine Schnellstraße weit oberhalb des Strandes durch den Wald. Trotzdem war und ist es ein paradiesisches Gebiet, in dem wir Kinder aufgewachsen sind. Hügel, Buchenwälder, die blaue Flensburger Förde, der weiße Sand, eine alte Stadt in der Nähe, die im Krieg nie zerstört wurde, und vieles, was es zu entdecken gab.

Und es dümpeln noch immer die Segel- und Motorboote in der Krusaumündung, der Weg über die Schusterkate (frühere Grenzbrücke) ins dänische Kollund ist noch derselbe, die Möwen kreischen immer noch, und es riecht immer noch nach Muscheln und Seetang. Auch der Weg durch die Wälder und über die Felder zum Niehuser See hat sich nicht verändert. In Süderhaff, wo ich im Alter von sechs Jahren den Winter verbrachte, gibt es immer noch die besten Hotdogs von Dänemark - mit Senf, Röstzwiebeln, Remoulade, Agurkesalat und Ketchup, dazu die pappweichen Brötchen. Früher waren die Würstchen feuerrrot.

David, mein Sohn, und ich haben schöne Plätze mit Tisch und Fenster in der Bahn gebucht, der Rückweg am Montag wird mich über Heidelberg und Bruchsal führen. Wollen wir hoffen und beten, dass die Bahn sich unsere Beschwerden tatsächlich zu Herzen genommen und den Service verbessert hat. Dann kann ich endlich mal wieder in Ruhe lesen, plaudern und mir vielleicht sogar weitere Gedanken zu meinem aktuellen Romanprojekt machen. Früher war es gang und gäbe, dass ich auf Bahnfahrten neue Ideen ausgebrütet habe, bevor die Handyschreier und  Rollwagendrängler in die Großraumwagen kamen.
                                                        
Mein Elternhaus in Wassersleben


Montag, 7. März 2016

Wie man einst zur Autorin wurde

Ach, wie berauschend musste es einst gewesen sein, als Frau ein Buch zu veröffentlichen! Fast verspürt man das Bedürfnis, im 18. oder 19. Jahrhundert geboren worden zu sein, der Zeit der Romantik. Eine Dame von Stand, Caroline von Wolzogen, schrieb einen Roman namens "Agnes von Lilien" - über eine junge Frau, die sich in der realen Welt fremd und unverstanden fühlt, sich selber sucht und einen idealisierten Mann gefunden hat. Dafür musste sie sich nicht etwa nach einem Verlag umsehen, und sie musste auch kein Geld damit verdienen. Ruhm war damals alles. Statt einen Verlag zu suchen, gab sie ihn ihrem Schwager Friedrich Schiller zu lesen, der ihn begeistert in seinen "Horen" veröffentlichte. Der Roman wurde Goethe zugeschrieben, später auch Schiller, bis die Identität gelüftet war. Ganz Weimar redete über kein anderes Thema, eine Flut von posiven Rezensionen erreichte die Autorin, berühmte Männer und Frauen der Zeit waren voll des Lobes. Herzog Karl August schickte ihr einen reich verzierten Schrank mit Schubfächern für die weiteren Manuskripte. Sie genoss diesen Ruhm unendlich. Bald geriet sie unter Druck, den nächsten Roman folgen zu lassen, auf den alle Welt schon wartete. Doch was geschah? Schillers Frau wurde schwer krank, und da man das Genie, das gerade an der "Johanna von Orléans" saß, nicht belästigen durfte, wurden ihr Schillers vier Kinder zusätzlich zu ihrem eigenen aufgebürdet, inklusiv der Pflege der Schwester und einem Umzug der Familie. Das hat sie alles geschafft, betrieb auch weiterhin ihren Salon mit den großen Geistern ihrer Zeit. Ernüchtert musste sie feststellen, dass ihr Gatte von Wolzogen mit einer erfolgreichen russischen Brautwerbung für den Herzogsohn zehnmal mehr verdiente als Schiller mit seinen Werken, und für den Rest seines Lebens ausgesorgt hatte. Da musste Caroline nun wirklich nichts hinzuverdienen. Anders war es bekanntlich bei Sophie de la Roche, die als erste finanziell unabhängige Autorin gilt und sich und ihre fünf Kinder mit dem Schreiben durchbrachte. Caroline von Wolzogen und ihr Ehemann wurden von der Weimarer Gesellschaft geächtet, weil sie mit Goethe und seiner Frau Christiane Vulpius verkehrten. Es wurde einsamer um sie. Die Einsamkeit kam ihr aber zu Pass, denn so konnte sie sich immer mehr dem Schreiben widmen. Eines Tages stellte Caroline von Wolzogen fest, dass sie plötzlich 59 Jahre alt geworden war. Die meisten ihrer Lieben - Schiller, ihre Schwester, ihr Ehemann -waren gestorben. Später sollte auch noch ihr Sohn Adolf folgen. Doch es gab immer noch Größen wie Goethe, Alexander von Humboldt oder Charlotte von Stein, die ihre Hand über die Autorin hielten. (Frau von Stein wurde übriges steinalt!) So vollendete Caroline eine Biografie über Schiller und einen zweiten Roman namens "Cordelia". Damit geriet sie aber bald in Vergessenheit.

Heute haben wir keine Herzöge und berühmte Genies, die unsere Bücher fördern und bekannt machen und uns mit Ruhm und Geschenken überhäufen. Wir schreiben Bücher und stellen uns damit an-in der Bücherfabrik. Würden eine Caroline von Wolzogen oder eine Sophie de la Roche heute leben, würden sie einen Salon bei Facebook betreiben, sich von ihren Männern ernähren lassen oder selbst für ihren Unterhalt geradestehen. Auf jeden Fall würden sie ihren Haushalt und ihre Kinder selbst versorgen. Sie würden Bücher und Ebooks bei Verlagen herausgeben oder selber veröffentlichen. Den Platz an der Sonne, den Marmorkuchen müssten sie sich mit tausenden anderer schreibender Männer und Frauen teilen.

Mittwoch, 2. März 2016

Die bleierne Zeit

In diesen grauen Tagen und Wochen muss ich immer wieder an den Begriff der "bleiernen Zeit" denken. Es scheint kein Ende nehmen zu wollen mit dem Regen, den Graupelschauern, der Kälte und dem eisigen Wind. Dazu die geschwundenen Möglichkeiten, sich mit seinem Autorenstatus aus dieser Welt zu beamen. Das bringt alles keinen Spaß mehr. Autoschlangen wälzen sich Stoßstange an Stoßstange über die Straßen des Landes, denn Baden-Württemberg ist das Land des Heiligen Blechle, welches auch sonst. Auch die Autos tragen zur bleiernen Zeit bei, denn sie sind fast durchweg grau, schwarz oder weiß und stoßen unter anderem Blei aus. Irgendwie musste da auch noch was Politisches sein, denn "Die bleierne Zeit" hatte doch irgendwas mit einem Film von Margarete von Trotta, der RAF und "Deutschland im Herbst" zu tun. In dieser Hinsicht ist auch heute die Zeit mehr als bleiern: Die europäische Flüchtlingspolitik steht in einem desaströsen Stau, und das ganze Konstrukt droht auseinanderzubrechen.

Was hat es jetzt aber wirklich auf sich mit der bleiernen Zeit? Ich bin dem mal nachgegangen. Ja, es war ein Film von Margarete von Trotta, und es handelt sich dabei um die Entwicklung der Ensslin-Schwestern zur Gewalt und zur konstruktiven Konfliktlösung. Bleiern sei die Nachkriegszeit gewesen, in der alles über den Nationalsozialismus totgeschwiegen, wenn nicht gar beschönigt wurde. Nur deshalb konnten sich seit den 60er Jahren Neonaziverbände gründen, entstanden die NPD mit 9% Wahlergebnis vor 1969 und später andere Organisationen wie die NSU. Das zieht sich hin bis zu brennenden Flüchtlingsunterkünften, um die herum johlend geklatscht wird. Die NPD hatte die Abschaffung des Asylrechts schon 1964 im Parteiprogramm! Gottseidank wird ja nun wieder höchstrichterlich versucht, dem Spuk ein Ende zu machen. Die Kämpfe hier in der Region werde ich nie vergessen: Wie am Hitlergeburtstag zum Feiern aufgerufen wurde und die Teilnehmer sich mit Gegnern Regenschirmschlachten lieferten. Das Telefon meines damaligen Gatten wurde vom Verfassungsschutz überwacht. Aber auch hier ist der Ursprung des Begriffes nicht zu suchen. Offenbar stammt er von einem Hölderlin-Gedicht, dessen eine Strophe lautet:
Trüb ists heut, es schlummern die Gäng’ und die Gassen und fast will Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit. Dennoch gelinget der Wunsch, Rechtglaubige zweifeln an Einer Stunde nicht und der Lust bleibe geweihet der Tag.

Der Gang aufs Land. An Landauer.
Friedrich Hölderlin, 1770-1843

Und was ich da lese, heißt nichts anderes als die Gewissheit, dass diese Zeit vorübergehen und der Einzelne auch ihr etwas abgewinnen können wird, wenn er denn will. Sich informieren, sich solidarisieren, Geld spenden, helfen, was immer jemand in seinem Bereich leisten kann. Kommen wir mal auf das Individuelle zurück. Ich denke an die Unzahl von Rentnern, Autoren, Arbeitslosen, Heimatlosen, aber auch Beschäftigten, die eine solche Zeit durchstehen müssen. Nehmen wir mal die Rentner, dann ist der Winter tatsächlich eine Zeit, in der die Klischees aufblühen, die man sich immer von diesem Personenkreis denkt. Der graue Tag, die grauen Haare, die graue Jogginghose, das Vogelhäuschen vor dem Fenster, die Rätselhefte und das immer grölende Fernsehen sind die Prototypen dieser Szenerie. Und wirklich, die lieben Tierchen sind manchmal die Einzigen, die noch ein wenig hölderlinsche Lust in den Alltag bringen, vor allem dann, wenn man sich schon monatelang in einer Schaffenskrise befindet. Mein weißer Schatten (die Besucherkatze), luftig und flockig, folgt mir schon in meine Träume. Sie scheint auf eine geheime Uhr zu schauen, denn sie taucht pünktlich dann auf, wenn ich ins Bett gehen und lüften will, jumpt durchs Zimmer ins Bücherregal und schaut hinter den Büchern meines Urururgroßvaters mit großen Augen heraus, mit der Frage, ob sie denn nicht mal wieder eine Nacht? Das darf sie ab und zu, und sobald das klar ist, schnurrt sie wie eine Nähmaschine. Aber mit der Fütterei bin ich konsequent. Gestern hatte sie wieder ihre Uhr dabei, denn als mein Auto um die Ecke bog, saß sie schon an dieser Ecke, hielt Ausschau und hüpfte in langen Sätzen herbei. Als Zeichen dafür, dass ich nichts Katzengerechtes zum Futtern da habe, zeigte ich ihr eine Scheibe Käse, woraufhin sie sich mal wieder kopfschüttelnd trollte. Inzwischen denke ich fast, sie versteht, was ich sage. "Willst du etwa wieder eine Scheibe Käse haben?", woraufhin sie den Kopf schüttelt und via Bank nach oben zur Nachbarin verschwindet. A na, das ist natürlich ein Märchen.

Außer den lieben Tierchen oder Gesprächen mit Menschen ist es die Lektüre, die uns die Lust am grauen Dasein zurückgeben kann. Sicher auch jede Art von Kunst, die aber bei uns hier im Blechlegebiet rar gesät ist und besonders schwer zu erreichen, dank der Bleischachteln auf allen Wegen. Gerade lese ich einen biografischen Roman über Caroline von Wolzerode, der Frau, die von Schiller geliebt wurde, obwohl er mit ihrer Schwester Lotte verheiratet war. Das liest sich außerordentlich vergnüglich, und ich stelle fest, dass die Autorin Renate Feyl über sämtliche bedeutenden Frauengestalten des 18. und 19. Jahrhunderts geschrieben hat, über die ich auch hätte schreiben können, wenn ich nicht zu recherchefaul gewesen wäre.

Nun, dieser ewig langen Rede kurzer Sinn soll darin münden, dass sich eine zu fest gespannte Schraube meines Gehirnkästchens gelockert hat und ich plötzlich wieder anfing zu schreiben, fünf, sechs Seiten am Stück. Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Was mir die ganze Zeit gefehlt hatte und nur im Hintergrund herumschwebte, war der Antagonist der Geschichte! Jetzt stand er plötzlich ganz klar und deutlich vor mir und beharrte auf einer eigenen Perspektive. Es ist ein fieser, neonazistischer Antagonist mit einer entsprechenden Herkunft. Auch das kann die Blockade verursacht haben. Mit dieser neuen Perspektive driftet der Roman immer mehr in Richtung Thriller. Die Aussicht, diesen Roman weiterzuschreiben und ihn nicht auf Seite 100 (bin bei 98) in die Tonne zu kloppen, ist schon eine Lust, die den grauen Tagen geweiht sein könnte.
                                                                     
                                                                       
Diana Verlag-mein Einband aus dem Antiquarat ist noch schöner