Mittwoch, 2. März 2016

Die bleierne Zeit

In diesen grauen Tagen und Wochen muss ich immer wieder an den Begriff der "bleiernen Zeit" denken. Es scheint kein Ende nehmen zu wollen mit dem Regen, den Graupelschauern, der Kälte und dem eisigen Wind. Dazu die geschwundenen Möglichkeiten, sich mit seinem Autorenstatus aus dieser Welt zu beamen. Das bringt alles keinen Spaß mehr. Autoschlangen wälzen sich Stoßstange an Stoßstange über die Straßen des Landes, denn Baden-Württemberg ist das Land des Heiligen Blechle, welches auch sonst. Auch die Autos tragen zur bleiernen Zeit bei, denn sie sind fast durchweg grau, schwarz oder weiß und stoßen unter anderem Blei aus. Irgendwie musste da auch noch was Politisches sein, denn "Die bleierne Zeit" hatte doch irgendwas mit einem Film von Margarete von Trotta, der RAF und "Deutschland im Herbst" zu tun. In dieser Hinsicht ist auch heute die Zeit mehr als bleiern: Die europäische Flüchtlingspolitik steht in einem desaströsen Stau, und das ganze Konstrukt droht auseinanderzubrechen.

Was hat es jetzt aber wirklich auf sich mit der bleiernen Zeit? Ich bin dem mal nachgegangen. Ja, es war ein Film von Margarete von Trotta, und es handelt sich dabei um die Entwicklung der Ensslin-Schwestern zur Gewalt und zur konstruktiven Konfliktlösung. Bleiern sei die Nachkriegszeit gewesen, in der alles über den Nationalsozialismus totgeschwiegen, wenn nicht gar beschönigt wurde. Nur deshalb konnten sich seit den 60er Jahren Neonaziverbände gründen, entstanden die NPD mit 9% Wahlergebnis vor 1969 und später andere Organisationen wie die NSU. Das zieht sich hin bis zu brennenden Flüchtlingsunterkünften, um die herum johlend geklatscht wird. Die NPD hatte die Abschaffung des Asylrechts schon 1964 im Parteiprogramm! Gottseidank wird ja nun wieder höchstrichterlich versucht, dem Spuk ein Ende zu machen. Die Kämpfe hier in der Region werde ich nie vergessen: Wie am Hitlergeburtstag zum Feiern aufgerufen wurde und die Teilnehmer sich mit Gegnern Regenschirmschlachten lieferten. Das Telefon meines damaligen Gatten wurde vom Verfassungsschutz überwacht. Aber auch hier ist der Ursprung des Begriffes nicht zu suchen. Offenbar stammt er von einem Hölderlin-Gedicht, dessen eine Strophe lautet:
Trüb ists heut, es schlummern die Gäng’ und die Gassen und fast will Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit. Dennoch gelinget der Wunsch, Rechtglaubige zweifeln an Einer Stunde nicht und der Lust bleibe geweihet der Tag.

Der Gang aufs Land. An Landauer.
Friedrich Hölderlin, 1770-1843

Und was ich da lese, heißt nichts anderes als die Gewissheit, dass diese Zeit vorübergehen und der Einzelne auch ihr etwas abgewinnen können wird, wenn er denn will. Sich informieren, sich solidarisieren, Geld spenden, helfen, was immer jemand in seinem Bereich leisten kann. Kommen wir mal auf das Individuelle zurück. Ich denke an die Unzahl von Rentnern, Autoren, Arbeitslosen, Heimatlosen, aber auch Beschäftigten, die eine solche Zeit durchstehen müssen. Nehmen wir mal die Rentner, dann ist der Winter tatsächlich eine Zeit, in der die Klischees aufblühen, die man sich immer von diesem Personenkreis denkt. Der graue Tag, die grauen Haare, die graue Jogginghose, das Vogelhäuschen vor dem Fenster, die Rätselhefte und das immer grölende Fernsehen sind die Prototypen dieser Szenerie. Und wirklich, die lieben Tierchen sind manchmal die Einzigen, die noch ein wenig hölderlinsche Lust in den Alltag bringen, vor allem dann, wenn man sich schon monatelang in einer Schaffenskrise befindet. Mein weißer Schatten (die Besucherkatze), luftig und flockig, folgt mir schon in meine Träume. Sie scheint auf eine geheime Uhr zu schauen, denn sie taucht pünktlich dann auf, wenn ich ins Bett gehen und lüften will, jumpt durchs Zimmer ins Bücherregal und schaut hinter den Büchern meines Urururgroßvaters mit großen Augen heraus, mit der Frage, ob sie denn nicht mal wieder eine Nacht? Das darf sie ab und zu, und sobald das klar ist, schnurrt sie wie eine Nähmaschine. Aber mit der Fütterei bin ich konsequent. Gestern hatte sie wieder ihre Uhr dabei, denn als mein Auto um die Ecke bog, saß sie schon an dieser Ecke, hielt Ausschau und hüpfte in langen Sätzen herbei. Als Zeichen dafür, dass ich nichts Katzengerechtes zum Futtern da habe, zeigte ich ihr eine Scheibe Käse, woraufhin sie sich mal wieder kopfschüttelnd trollte. Inzwischen denke ich fast, sie versteht, was ich sage. "Willst du etwa wieder eine Scheibe Käse haben?", woraufhin sie den Kopf schüttelt und via Bank nach oben zur Nachbarin verschwindet. A na, das ist natürlich ein Märchen.

Außer den lieben Tierchen oder Gesprächen mit Menschen ist es die Lektüre, die uns die Lust am grauen Dasein zurückgeben kann. Sicher auch jede Art von Kunst, die aber bei uns hier im Blechlegebiet rar gesät ist und besonders schwer zu erreichen, dank der Bleischachteln auf allen Wegen. Gerade lese ich einen biografischen Roman über Caroline von Wolzerode, der Frau, die von Schiller geliebt wurde, obwohl er mit ihrer Schwester Lotte verheiratet war. Das liest sich außerordentlich vergnüglich, und ich stelle fest, dass die Autorin Renate Feyl über sämtliche bedeutenden Frauengestalten des 18. und 19. Jahrhunderts geschrieben hat, über die ich auch hätte schreiben können, wenn ich nicht zu recherchefaul gewesen wäre.

Nun, dieser ewig langen Rede kurzer Sinn soll darin münden, dass sich eine zu fest gespannte Schraube meines Gehirnkästchens gelockert hat und ich plötzlich wieder anfing zu schreiben, fünf, sechs Seiten am Stück. Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Was mir die ganze Zeit gefehlt hatte und nur im Hintergrund herumschwebte, war der Antagonist der Geschichte! Jetzt stand er plötzlich ganz klar und deutlich vor mir und beharrte auf einer eigenen Perspektive. Es ist ein fieser, neonazistischer Antagonist mit einer entsprechenden Herkunft. Auch das kann die Blockade verursacht haben. Mit dieser neuen Perspektive driftet der Roman immer mehr in Richtung Thriller. Die Aussicht, diesen Roman weiterzuschreiben und ihn nicht auf Seite 100 (bin bei 98) in die Tonne zu kloppen, ist schon eine Lust, die den grauen Tagen geweiht sein könnte.
                                                                     
                                                                       
Diana Verlag-mein Einband aus dem Antiquarat ist noch schöner
                                                                                                                                                      

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