Donnerstag, 28. April 2016

Trauma

Für Betroffene und Interessierte im Großraum Tübingen/ Freudenstadt/ Calw ein interessanter Termin: Die renommierte Traumaexpertin Michaela Huber spricht am Dienstag, den 10. Mai 2016 um 19.00 über das Thema: "Trauma und Sucht". Ort: Kubus Nagold, bei der Stadtbücherei. Zum Thema "Trauma" noch ein ausführlicherer Link Diagnose Trauma Traumatische Ereignisse können Naturkatastrophen oder Gewalterfahrungen sein, schwere Unfälle, Vergewaltigungen, Terroranschläge, Kriegserlebnisse oder Entführungen. Sie können zu akuten oder dauerhaften psychischen Schäden wie der akuten Belastungsreaktion und der Posttraumatischen Belastungsstörung führen. In unserer Zeit häufen sich solche Erfahrungen für viele Menschen. Es können aber auch Erfahrungen von Gewalt oder sexuellen Übergriffen in der Kindheit sein, die zu solchen Traumatisierungen führen. Ich selbst habe in meiner Arbeit mit Traumapatienten erlebt, dass sie u.a. Identitätsschwierigkeiten hatten, zur Selbstverletzungen neigten und ein ausgeprägt niedriges Selbstwertgefühl hatten. Manche litten auch unter Impulsdurchbrüchen, Flashbacks, "Nachhallerinnerungen" oder Alpträumen. In einem Fall habe ich es erlebt, dass derjenige nicht mehr gehen und nichts mehr sehen konnte, wenn so ein Flashback kam. Wenn keine therapeutische Hilfe in Anspruch genommen wird, kann der Betroffene auch versuchen, "Selbstheilungsmittel" wie Alkohol und Drogen gegen seine Symptome einzusetzen. Daraus kann dann ein Teufelskreis entstehen, aus dem die Betroffenen sich meist ohne Hilfe nicht mehr befreien können.

                                          
Vortrag Trauma und Sucht


Am Dienstag, den 10. Mai 2016, auf Einladung des Nagolder Vereins für soziale Integration, hält die bekannte Traumaexpertin und psychologische Psychotherapeutin Michaela Huber einen Vortrag über „Trauma und Sucht.“ Die Veranstaltung findet um 19.00 im Kubus, Zwingerweg 7 in Nagold, statt. Der Vortrag ist kostenlos, alle Interessierten sind herzlich eingeladen. Parallel dazu werden am 11. und 12. Mai Workshops zum Thema "Komplextrauma in der Psychiatrie, Psychotherapie und Beratung" angeboten. Diese Workshops sind bereits ausgebucht, eine Anmeldung ist leider nicht mehr möglich. Michaela Huber wurde 1952 in München geboren. Nach Studium der Psychologie in Düsseldorf und Münster sowie Ausbildung in Verhaltenstherapie war sie Dozentin an verschiedenen Ausbildungsinstituten und Universitäten in Deutschland. Von 1978-1982 war sie Redakteurin bei der Zeitschrift „Psychologie heute“. Seit 1989 ist sie in Kassel als Psychologische Psychotherapeutin und Supervisorin niedergelassen. National wie international ist sie als Ausbilderin in Traumabehandlung mit Schwerpunkt komplexe PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) und dissoziative Störungen tätig. Zahlreiche Fachartikel und Bücher sind von ihr erschienen, unter anderem ein zweiteiliges Standardwerk: „Trauma und die Folgen“ und „Wege der Traumabehandlung“ (2003), dann „Der Feind im Innern“ (2013) sowie „Der geborgene Ort“ (2015). Michaela Huber ist seit 1995 1.Vorsitzende einer Trauma-Fachgesellschaft (ISSD, d.h. International Society for the Study of Dissociation dt. Sektion, seit 2012 umbenannt in „Deutsche Gesellschaft für Trauma und Dissoziation“). Sie wurde u.a. mit dem „International Distinguished Achievement Award 1997 der ISSD ausgezeichnet und erhielt das Bundesverdienstkreuz.

Nun zum Thema: Wer kennt sie nicht, die flotten Sprüche wie „Darauf einen Dujardin“, „Schütt die Sorgen in ein Gläschen Wein“ oder „Halt, mein Freund, wer wird denn gleich in die Luft gehen! Greife lieber zur HB, dann geht alles wie von selbst!“ Wie Studien zeigen, beginnt die Sucht oft damit, dass großer Stress, bedingt durch eine schwierige psychische Entwicklung, durch traumatische Erfahrungen und Konfliktsituationen, nicht mehr gelöst werden kann. In solchen Situationen wird häufig ein Suchtmittel eingesetzt, anstatt sich Hilfe zu suchen. Das Suchtmittel wird quasi zum Bindungsperson-Ersatz, zum "besten Freund", weil die Beziehungen zu wichtigen Personen eventuell schon in der Kindheit gescheitert sind. Wenn jemand abhängig von Suchtmitteln geworden ist, dann hat er das meist nicht aus Jux und Tollerei, aus Frust oder Abenteuerlust gemacht. Oder weil er erstmalig als Erwachsener in eine Krise geraten wäre. Viele haben eine Kindheit voller Gewalt und Leid hinter sich. Die Sucht scheint dann ein Ausweg zu sein, um nichts mehr fühlen, sich nicht mit dem Schmerz konfrontieren zu müssen. Süchtige weichen der Notwendigkeit aus, sich mit den Folgen von Trauma und Gewalt auseinanderzusetzen und eine Veränderung einzuleiten. Dabei wiederholen sie oft genau die Muster, vor denen sie davonlaufen. Welche neuen, konstruktiveren Lösungsmöglichkeiten könnte es in solchen Situationen geben? Wie kann man die eingefahrenen Lebensmuster ändern, das Ruder noch einmal herumreißen?

Christa Schmid-Lotz, 28. April 2016

Freitag, 22. April 2016

Leben am Rande des Schwarzwalds

Wie lebt es sich zur Zeit im großen schwarzen Wald? Die Buchen haben junge Blätter angesetzt, es leuchtet hellgrün in den Wäldern, dazwischen die schwarzen, düster schweigenden Tannen und Fichten. Millionenfach sind Anemomen, Primeln, Veilchen, gleichzeitig Löwenzahn, Lungenkraut, gelbe Windröschen und Frühlingsfingerkraut aus dem Boden geschossen. Mein Garten sieht wieder aus wie ein Osternest. Als würden die Pflanzen spüren, dass sie flott machen müssen, denn bald soll es ihnen ja wieder auf die zarten Köpfe schneien. Ich selbst habe einiges abgeschlossen. Die Steuererklärung habe ich vor ein paar Tagen ganz ohne Steuerberater fertig gestellt und abgeschickt. Es fehlte noch die Abrechnung vom Verlag, die kam heute mit Peanuts und Verspätung. Ich habe mir gerade mal das Vergnügen gemacht, sie mit der Abrechnung von Tolino Media zu vergleichen. Auf das halbe Jahr umgerechnet habe ich im Verlag mehr Ebooks verkauft, aber bei Tolino zehnmal soviel verdient. Wenn ich meinen Schwarwaldkrimi fertig überarbeitet habe, könnte ich das Angebot annehmen, es dort bevorzugt als Neuerscheinung einzustellen. Die Verkaufsmaßnahmen wie Leserunden, Bloghinweise, Facebookpräsenz usw. habe ich bei den Verlagsbüchern genauso gehandhabt wie bei den SP-Büchern, wenn nicht sogar dort etwas mehr.


Der Bodensee bei Friedrichshafen
Als Rentner muss man nicht mehr warten, bis am Wochenende das Wetter stimmt. So haben wir uns schon kleine Auszeiten am Bodensee und im Taubertal genommen. Schwer hinzukommen, aber erholsam, dort zu sein. Wenn ich Lust habe, schreibe ich meinen Krimi fertig, der hier in der Gegend spielt. Vielleicht erinnert sich jemand: Es geht um einen Pfarrer, der vor 25 Jahren aus einem Dorf verschwand. Um eine Journalistin, einen Kommissar, um brutale Morde, um schwarzgekleidete Fressäcke und geheimnisvolle Begebenheiten am Teufelsstein.

Zeit zum Lesen bleibt genügend: Im Moment ist das ein sehr lustiges Buch von Pierre M. Krause "Hier kann man gut sitzen - Geschichten aus dem Schwarzwald".
Schwarzwald pur, nicht wahr?

Pierre M. Krause beschreibt, wie er aus der pulsierenden Stadt Baden-Baden wegzieht und fortan, wie ich, auf dem Land im Black Forest lebt. Sonst lese ich eigentlich, außer Hape Kekeling, keine Promi-Bücher, aber dieses hat mich auf fast jeder Seite zum Schmunzeln gebracht. Sei es über die Rasenmäher- und Grillparty-Fraktion, die Holz- und Kettensägen, die Langsamfahrer oder die Notwendigkeit, im Haus immer so angezogen zu sein, als würde man ausgehen wollen, weil jederzeit jemand vorbeikommen könnte. Vom Garten ganz zu schweigen, der darf natürlich nicht so aussehen, als sei dort jemand gestorben! Und die Post hat solche unmerkbaren Öffnungszeiten, dass man am besten immer um 10 Uhr morgens dorthin geht. Nur leider hat meine Post manchmal auch um 10 Uhr vormittags geschlossen.

Der Zeitungsartikel über den Traumavortrag ist raus und erscheint vorraussichtlich nächste Woche in der Zeitung. Bis zum Vortrag am 10. Mail haben wir jede Menge  Zeit, vielleicht noch ein Plätzchen zu finden, an dem sich der Wintereinbruch angenehmer überstehen lässt.
Das Barockjuwel Birnau

Samstag, 9. April 2016

Generation "Kopf unten" und die kleinen Fluchten

Neben allem, was ich auch schon im Fernsehen und im Internet mitbekommen habe, las ich heute einen Zeitunsartikel über die sogenannten Smombies. Smombie ist ein Begriff, der sich aus "Smartphone" und "Zombie" zusammensetzt. Vom Rückschritt des Fortschritts: Digitaler Burnout, Smombies & Generation Head-Down Das beginnt schon mal recht lustig mit einer Darstellung des aufrechten Gangs bei Menschen, der erst auf allen Vieren kriecht, allmählich auftsteht, dann aufrecht geht und in der Endphase den Kopf wieder nach unten senkt, dem Boden immer näher kommt und  damit die Übersicht verliert. Vieles ist schon bekannt wie das Verkehrsschild in Stockholm, das nicht vor spielenden Kindern, sondern vor Menschen mit Handys und Smartphones warnt. Dabei geht es offensichtlich gar nicht mehr ums Telefonieren: 7 Minuten pro Tag soll die durchschnittliche Gesprächsdauer des Smartphonenutzers betragen. Der Rest wird mit Kontaktieren bestimmter Kommunikationsseiten wie Facebook oder Twitter verbracht. Es wird empfohlen, "digitale Diäten", smartphonefreie Zonen für sich einzurichten, zum Beispiel im Schlafzimmer. Speziell für den Straßenverkehr hat die Dekra eine Studie veröffentlicht, die heute in den Zeitungen abgedruckt wurde. Die-Unfaelle-der-Generation-Kopf-unten. Wenn sechs von zehn Bundesbürgern ein Smartphone besitzen und es täglich einige Stunden nutzen, ist das in der Tat ein beachtenswertes gesellschaftliches Phänomen. Und es kann gefährlich werden, wie wir gesehen haben.

Die meisten derer, die diesen Blogeintrag lesen, werden gar kein Smartphone haben oder es so sinnvoll nutzen wie das Messer, mit dem sie Salami schneiden. Ich selbst habe (noch) keins, sehe aber über die genannten Aspekte hinaus noch weitere Zusammenhänge. Eine Rückmeldung in den sozialen Medien zu bekommen, so las ich an anderer Stelle, setze bestimmte Glückmomente frei, das bekannte Serotonin. Das verfliegt aber auch schnell wieder, so dass es bald wiederholt werden muss. Das beschränkt sich nicht nur auf den Gebrauch von Geräten. Es geht ME auch darum, sich Parallelwelten zu erschaffen, um die schnöde Gegenwart eine Zeit lang vergessen zu können. Die meisten der Smartphonebesitzer werden nicht das Glück haben, sich eigene Welten zum Beispiel durch Schreiben, Malen oder Musik erschließen zu können. Wahrscheinlich haben sie sogar verlernt, Bücher zu lesen. Oder sie lesen kürzere Texte auf dem Smartphone. Ich persönlich halte Parallelwelten für äußerst gesund, wenn sie als solche erkannt und persönlichkeitsfördernd eingesetzt werden. Hat sich nicht unter anderem im neunzehnten Jahrhundert eine ganze literarische Genration von Schriftstellern damit über Wasser gehalten? Wenn sich heute vor allem junge Menschen darin total verlieren, ist das besorgniserregend. Handy und Smartphone können auf der anderen Seite auch Orientierungsmittel im Dschungel der modernen Welt sein. Das Umfeld sollte den Blick vom Boden heben und genau beobachten, was geschieht, sollte aufklären und alternative Welten anbieten.

Dienstag, 5. April 2016

Vernetzt und verkabelt

Heute las ich einen kurzen Artikel in der Zeitung, den ich normalerweise gar nicht beachtet hätte. Der Titel lautete: Telekom setzt auf ein intelligentes Zuhause. Heutzutage seien pro Haushalt etwa neun Geräte miteinander vernetzt, bis zum Jahr 2022 sollen es 500 sein. Der nächste große Trend sei der, das alles per Smartphone zu steuern. Aber sie geben zu, dass sie das nicht machen, damit der Kunde und Bürger es angenehmer oder leichter hätte. Nein, sie wollen den Kuchen nicht anderen, vor allem amerikanischen Anbietern wie Google oder Nest überlassen. Zu dem Zweck gründen sie eine eigene Plattform. Ich frage mich oft, wieso eigentlich immer als selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass jeder ein Handy, ein Smartphone oder auch einen Computer hat. Und empfinde es als Zwang und Bevormunderei.

Ich gehöre ja zu einer Generation, die jene guten alten Zeiten noch erlebt hat, von denen nur noch hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. Es möchte sich ja keiner als altbacken und Fortschrittsverweigerer zu erkennen geben. Durch meine Beschäftigung mit dem Schreiben habe ich im Lauf der Jahre viel über Computer und digitale Netzwerke gelernt. Inzwischen kann ich sogar meine Steuererklärung digital ausfüllen und selbst Formulare finden, die bei der Finanzverwaltung gar nicht angeboten werden. In Foren konnte ich sehen, dass Leute gezwungen wurden, viel Geld für einen Steuerberater auszugeben, nur um dieses Formular digital auszufüllen. Papier geht so gut wie gar nicht mehr. Dabei frage ich mich, wie andere Leute damit zurechtkommen.

Als ich vor etlichen Jahren nach Umzug ein neues Telefon brauchte, kam noch jemand von Telekom ins Haus und schloss das neue Gerät an. Bei jeder Störung, die ich seither hatte, musste ich mit Robotern verhandeln oder mit echten Menschen, die so schnell sprachen, dass mir ganz schwindelig wurde. Technik und Digitalisierung machen vor nichts und niemandem halt. Dabei ist es noch das geringste, eine Fahrkarte bei der deutschen Bahn am PC zu bestellen. Dauert etwas kürzer, als wenn man zum Bahnhof geht und wartet, bis der Beamte endlich durchgeblickt hat. Als ich das Auto meines Vaters übernehmen sollte, musste ich stundenlang eine Anleitung studieren, um herauszufinden, wie das Radio ausgeht. Also, ich finde, das Knopfdrücken war doch wesentlich entspannter! In meinem jetzigen Auto ist ein Computer an der Stelle, wo früher der CD-Player war - und der ist jetzt im Handschuhfach. Ein Fernseher wird auch demnächst fällig. Doch ich habe gesehen, dass die Flachbildschirme überhaupt keine Knöpfe mehr haben. Da werde ich mir ein Smartphone kaufen müssen, um damit gleichzeitig das Fernsehprogramm, den Computer und das Essen auf dem Herd regulieren zu können. Zunehmende Digitalisierung führt zu mehr Überwachung. Vielleicht hat das Smartphone ja bald eine Wanze drin, die weitermeldet, welche Gerichte man bevorzugt? Die Daten miteinander vergleicht und einen grellen Warnton ausstößt, wenn man zu viel Fett nimmt?

Wahrscheinlich habe ich keine Wahl, als mich dem Strom der Zeit anzupassen. Zumindest minimal. Und bin froh, bei meiner Mutter noch erlebt zu haben, wie man Sahne mit der Hand schlägt, Kaffee mit einer Mühle mahlt und die Wäsche in einem großen Bottich kocht. Diese Strapatzen haben uns die Maschinen ja glücklicherweise abgenommen. War es früher wirklich besser? Der Kabarettist Christoph Sonntag nimmt die modernen Zeiten gern immer wieder auf die Schippe. Es war nicht besser früher, alles hat viel länger gedauert. Aber es war einfacher und überschaubarer. Und man hat viel mehr Menschen gesehen, die in Kneipen saßen und miteinander geredet haben. Heute haben viele Wirtschaften auf dem Land geschlossen. Und statt miteinander zu reden, fahren sie einander fast von hinten in ihre Autos rein. Ein Riesennetz ist über die Welt gespannt, in dem alle miteinander kommunizieren und dabei mit ihren Smartphones an der Realität vorbeitaumeln. Ich plädiere für Rückbau wie bei den geknebelten Flüssen, die da und dort schon wieder munter in ihren Betten mäandern dürfen! Es gab nämlich noch eine andere Zeitungsmeldung, ich finde sie bloß nicht mehr: Da machte jemand den Vorschlag, dass junge Leute heutzutage wieder lernen sollten, Straßenkarten zu lesen (und im Kopf zu rechnen, füge ich im Stillen dazu). Kinder müssen nicht nur erkennen, dass die Milch nicht aus der Tüte kommt, der moderne Mensch sollte wieder lernen, dass es eine wirkliche, sinnliche Welt gibt, und dass es darin andere Menschen gibt. Dass es noch Wunder gibt, die uns digital nie vermittelt werden können.

Nach dem Schreiben dieses Beitrags habe ich noch ein passendes Interview mit der Cyberpsychologin Catarina Katzer in der WELT vom 6.2.16 gefunden. Sie kommt zu dem Schluss, dass Unkörperlichkeit und Anonymität im Netz enthemmen, und wünscht sich einen bewussteren Umgang mit den Medien. Das Langzeitgedächtnis verkümmere durch die Googelei, Beziehungen würden häufig oberflächlicher und dann durch SMS beendet. Was das Googeln und die noch fehlende Zivilcourage betrifft, muss ich mich an der eigenen Nase fassen. Wobei ich in meinem Netzwerk allerdings noch nie mit Hassparolen konfrontiert worden bin.
Wie-das-Netz-unsere-Psyche-veraendert

Siehe dazu auch: Technisches Verständnis  
im Blog von Annette Weber

Freitag, 1. April 2016

Blaue Stunden

Eigentlich wollte ich diesen Beitrag mit den Worten "Blaue Blumen " betiteln, merkte dann aber, dass der Begriff nicht das trifft, was ich sagen wollte. Die Blaue Blume ist ein Begriff der Romantik und bezeichnet die Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem, Unendlichen. Dabei ist sie ein Symbol für die Verbindung von Mensch und Natur sowie des Wanderns geworden. Geprägt wurde er durch den Dichter Novalis, der den frühen Tod seiner jungen Geliebten in seinem Roman "Heinrich von Ofterdingen" verarbeitete. Der kleine Ort Ofterdingen liegt übrigens nicht weit von hier: Wenn wir zur schwäbischen Alb hinüberfahren, durchqueren wir häufig diesen schmucken Platz, an dem inzwischen auch eine Gedenktafel für den "Heinrich" aufgestellt wurde. Nicht nur deswegen ist Ofterdingen ein besonderer Ort (auch wenn die Gestalt des mittelalterlichen Heinrich natürlich fiktiv sein müsste), sondern auch wegen der großen Ammoniten, die hinter der Brücke im Fluss zu sehen sind, allerdings nicht bei Hochwasser. Es sind die Tintenfische der Urzeit, die hier vor Jahrmillionen im Jurameer wohnten und allmählich versteinerten (um nicht zu sagen: verkalkten). Die blaue Blume bedeutet auch eine Art von Todessehnsucht, und die habe ich nicht gemeint. Eher Sehnsucht nach Leben.

Die blaue Stunde dagegen ist die Zeit zwischen Dämmerung und Nacht, wenn Himmel und Landschaft in einem besonders intensiven Blau erscheinen. Das hat für Fotografen eine besondere Bedeutung, aber war auch für Dichter und Schriftsteller schon immer eine, wenn auch melancholisch gefärbte, Inspiration. Der Übergang zur Nacht - darin liegt wohl das Gemeinsame der beiden Begriffe. Ich hingegen habe dieses Bild schon immer anders interpretiert. Die blaue Stunde war stets
der Moment, an dem sich etwas wandelte und etwas Neues entstand. Ein magischer Augenblick, in dem das Innere nach außen trat, wie aus einem Traum heraus. Das ist das eigentlich Romantische daran. Aber es kann auch ein seelischer Wandlungsprozess sein, der uns hilft, die vielbesprochene Resilienz zu erreichen und damit einen Schutzzaun gegen die zeitweise unerträglichen Außenbedingungen aufzubauen. Magische Momente und blaue Stunden habe ich in meiner Studentenzeit erlebt, wenn ich mich auf einer Reise frühmorgens oder abends mit dem Schiff einem fremden Land näherte. Oder wenn wir zur Dämmerstunde in einen Landgasthof fuhren, um mit Freunden zu tafeln. Eine Nacht auf einem Felsen hoch oben in der Provence, mit einem kleinen Ballon Rosé und den Lichterketten unter unseren Füßen. Die Fledermäuse, Nachtigallen und Glühwürmchen auf dem Zeltplatz. Blaue Stunden waren die Spaziergänge und Wanderungen durch Löwenzahnwiesen, Rosengärten und Blaukissenwälder, in denen es später nach Bärlauch duftete. Es waren Besuche in Kirchen mit Figuren, die in hellblaue Himmel aufstiegen oder mit streng gotischen Gewölben, Begegnungen mit Menschen, das gemeinsame Lachen über komische Situationen oder auch Bücher oder Blogeinträge, die auf irgendeine Weise berührt haben und unvergesslich wurden.

In den letzten zwei Wochen waren die blauen Stunden wie Perlen einer Kette, die selten auftraten, aber nachhaltig alles Trübe verdrängen konnten. Eine Wanderung wie jedes Jahr im Donautal, an dessen Hängen Millionen von Leberblümchen und Märzenbechern in voller Blüte standen. Ein Essen in einem traditionellen Gasthof, wo es noch so schmeckte wie früher. Eine Fahrt in den Klosterort Gengenbach, mit explodierenden Magnolien, Forsithien und Veilchen und einem bunten Leben und Treiben. Die blauen Scillawiesen bei Herrenberg. Ein Buch über den "Winter der Welt" von Ken Follet, den ich lange Zeit links liegen gelassen hatte. Und nach jeder blauen Stunde musste man wieder eintauchen in diesen Winter. Dann stöberte ich mit roten Ohren in den Büchern eines literarisch-unterhaltsamen Agenten. Dachte an die Stunden, in denen Ideen zu Romanen entstanden waren, die Stunden des rauschhaften Schreibens. Das alles hat dazu beigetragen, dass sich mit einem Mal die Schreiblust wieder regte.

Ich legte meinen Neonazi-Südamerikaroman erst mal beiseite, kramte meinen dreieinhalb Jahre alten Schwarzwaldkrimi heraus und überlegte, was mir der einzige Verlag, den ich bisher kontaktiert hatte, dazu gesagt hatte. An einigen Stellen nicht spannend genug. Ich druckte mir den Text 20-seitenweise aus und begann zu lesen. Ich dachte, die Lektorin hätte die Beschreibungen gemeint, dass die einen Krimi bremsen würden. Aber das Ambiente wurde ja durchaus gelobt. Nicht schlecht, was ich da las, aber da waren ja ganz schön viel Dialoge, vielleicht die Hälfte. Das lese ich selbst nicht gern, wenn das ganze Buch nur daraus besteht. Und - eine uralte Schwäche von mir - in diesen Dialogen wird an einigen Stellen zu viel wiederholt. Also machte ich mich daran, diese Stellen zu straffen und zu kürzen, mindestens fünf Seiten sind dadurch schon auf der Strecke geblieben. Außerdem bekommt der Roman noch eine wichtige neue Perspektive, die mir damals die ganze Zeit im Hinterkopf herumgeisterte, die ich aber nicht realisieren konnte. Genauso wird es mir mit dem anderen Roman ergehen. Wenn ich ihn eine Weile liegen lasse und dann wieder lese, wird es mir wie Schuppen von den Augen fallen. Ich ahne schon jetzt, welche Perspektiven, Schauplätze und Zeitläufte fehlen, um ihn richtig rund zu machen. Solche Dinge, solche Erlebnisse und auch solche Erkenntnisse sind für mich blaue Stunden.