Auf meinem Küchentisch steht ein Autorenkalender, Überbleibsel aus einem der Jubiläums-Geschenkkörbe, die ich in naher Vergangenheit erhielt. Diese Woche fällt mir jeden Tag der Spruch einer Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts in die Augen: "Die Langsamkeit bietet die Chance, das, was wir tun, auch zu erleben."
Henriette Wilhelmine Hanke, von der hatte ich bisher nie etwas gehört. Und doch war sie in ihrer Zeit eine Bestseller-Autorin. Offensichtlich hat sie ihren Leserinnen vieles der Spätromantik und ihres eigenen einsamen Lebens vermittelt. Eigentlich wollte ich in meinem nächsten Artikel über die Mobilität des Menschen schreiben. Und ich sehe da durchaus Verknüpfungen. Die größere Mobilität des Menschen begann damit, dass er nicht mehr weite Strecken wanderte, sondern sich zu Pferde fortbewegte. Später, nach Erfindung des Rades, auch mit Ochsen -oder Eselskarren. Je weiter die Zeit fortschritt, desto schneller konnte er sich von einem zum anderen Ort begeben. Die ganz große Revolution kam dann mit dem maschinellen Zeitalter, der Eisenbahn, dem Automobil und den Flugzeugen. Schließlich flog er in Überschallgeschwindigkeit zum Mond. Ähnlich ist es mit vielem anderen, mit den Lese-und Schreibgewohnheiten und der Kommunikation. Die alten Kulturen hinterließen der Nachwelt Schriften und Kunstwerke, die Bibel wurde vom Lateinischen ins Deutsche übersetzt, irgendwann kamen Schreibmaschine und Computer in allen Dimensionen hinzu. Während man früher also zum Nachbarn ging und mit ihm redete, sitzt man heute am Tisch und redet in sein Smartphone. Bei Facebook kommen mal schnell welche vorbei (oder auch nicht), um ein paar Worte abzulassen. Was erleben wir denn da? Eigentlich nicht viel. Wir haben das Höchstmaß an Mobilität und Kommunikation erreicht.
Wenn ich mit dem Hochgeschwindigkeitszug durch die Landschaft rase oder auf der Autobahn fahre, sausen Wälder, Berge, Seen und Städte an mir vorbei. Sie verlieren an Bedeutung und werden austauschbar. Erst kürzlich dachte ich bei einer dieser Gelegenheiten: Wenn jetzt jemand aus dem All auf die Welt niederschauen würde, sähe er Millionen von Gestalten, die in einer Art Konservendosen sitzen, meist jeder für sich, und schnell irgendeinem Ziel zusteuern, das sie dann ebenso schnell wieder verlassen. Dafür sind wir doch gar nicht gemacht! Die anderen Millionen sitzen vor größeren oder kleineren Guckkästen, erleben dort ihre eigene Welt oder kommunizieren mit anderen Kastenguckern. Den Weg durch den Wald finden sie mit Hilfe von Google Earth. Dabei übersehen sie das erste aufgeblühte Veilchen, den ersten Blaustern oder Märzenbecher. Im Café sitzen sie, drücken und schieben auf ihren Smartphones herum und übersehen die vielen interessanten Menschen und Begebenheiten, die sich vor ihren Augen abspielen. Es ist das Leben in einer Parallelwelt.
Wenn ich zu Fuß einen Wanderweg beschreite, wird die Bedeutung wiederhergestellt, am meisten wahrscheinlich, wenn ich die Wanderung immer wieder unterbreche, die Dinge am Wegesrand betrachte oder eine Aussicht genieße. Ich erlebe etwas, wenn ich mit anderen spreche oder auch nur den Vögeln an der Futterstelle zuschaue. Oh nein, das Rad der Geschichte will ich keinesfalls zurückdrehen. Es sollte aber jeder von den allzu Mobilen, den allzu schnellen Guckern, den Fast-Food-Essern und auch von den allzu schnell veröffentlichenden Autoren ab und zu innehalten und überlegen, wo und was es wirklich zu erleben gibt. Und noch etwas: Das Medium ist dazu da, es richtig in seinen Gebrauch zu bringen. Wer sein Leben verhuscht und nirgendwo ankommt, ist daran vorbeigegangen. Aber wer alle Mittel, die der Mensch zu seiner Verfügung hat, richtig in Gebrauch nimmt, kann wirklich etwas erleben und es an andere weitergeben, damit die wiederum etwas erleben können.
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