Sonntag, 31. Juli 2016

Die Wiederentdeckung des Savoir Vivre

Wenn einer für eine Weile das Tosen der großen Städte und des röhrenden Netzes verlässt, kann er auch ganz in seiner Nähe etwas entdecken und erleben. Unlängst besuchten wir wieder einmal unsere Nachbarstädtchen Wildberg und Neubulach. Das Wildberger Kloster Reutin (Museum) mit lauschigem Park und einem Kräutergarten ist ein Ort der Stille. Nur einige aufgeweckte Kinder spielten am kleinen See, zeigten uns die Kaulquappen und einen winzigen Frosch, der daraus hervorgegangen war. Die Burg Wildberg ist eine guterhaltene Ruine aus dem Mittelalter. Von hier aus hat man einen großartigen Blick ins Nagoldtal. Auf dem Weg nach Neubulach, einem alten Bergarbeiterstädtchen, kamen wir an der Lochsägemühle vorbei, deren Mühlrad noch in Betrieb ist. Vom darüber gelegenen Stausee stiegen zwei Wanderer herab. Es war ein Rentnerehepaar, er Sarde, sie waschechte Schwäbin. Sie genießen das Leben, das sah man ihnen an. Von Mitte Mai bis Mitte Juni und von Mitte September bis Mitte Oktober fahren sie in den Urlaub - nach Sardinien, nach Südtirol und zu weiteren schönen Zielen, die in der Nebensaison günstiger und nicht so überlaufen sind. Das und anderes hat uns dazu angeregt, nächste Woche mal wieder ins Fränkische zu fahren. Dort ist es menschenleerer und alles geht etwas lässiger zu, man kann wieder ein, zwei Tage durchatmen.

Montag, 11. Juli 2016

Vom profanen Glück des Speisens

Wenn man jemanden fragt, an welche Bücher oder sonstige Dinge er sich am besten erinnert, könnte man auch wissen wollen, an welche persönlichen oder öffentlichen Ereignisse, welche Menschen, denen er begegnet ist, welche Landschaften, Speisen oder Restaurants seines Lebens in seinem Gedächtnis am meisten verankert sind. Und noch vieles mehr. Meine Kinder-Lieblingsspeisen waren übrigens Spagetti, Kotelett und Grießbrei. Zwei dieser Speisen esse ich heute noch gern. Das früheste Hotel-Restaurant, das mir in den Sinn kommt, war eins auf Alsen/ Dänemark. Ich war zehn Jahre alt und mit der Familie im Urlaub. Da konnte man durch ein Wäldchen zu einem Kap gelangen und mit einem Sprung vom Steg in die klare Ostsee tauchen. In dem Hotel waren alle Speisen, die es gab, mit Sahne verfeinert Also es gab zuerst zum Beispiel eine Gemüse-Sahnesuppe, dann Schweinebraten mit Sahnesoße und schließlich Sahnepudding mit Sahne. Gottseidank war ich ein dünnes Kind, an dem das spurlos vorüberging. Mit Schaudern sah ich dann die Sahnereste im Schweinstall, wo sie von den grunzenden Widerborstern schmatzend vertilgt wurden. Das ist ein fetter Kreislauf, musste ich denken, denn schon damals haben mich Zusammenhänge interessiert.

Ob das ein Grundstein für meine spätere Ess-, Koch- und Restaurantbegeisterung gewesen ist? Geblieben sind die Bilder von den Weihnachtsessen im Wasserslebener Haus, die Aal-, Nordseekrabben- und Sildplatten, die bei uns Geschwistern heiß umstritten waren. Von der Weihnachtspute gibt es sogar eine Kurzgeschichte. Während des Studiums verfeinerte ich meine Künste, war regelmäßige Leserin der Kolumne des Zeit-Schmeckers Wolfram Siebeck, der ja zu meinem großen Bedauern gerade verstorben ist. Von ihm lernte ich, dass "der deutsche Salat eine nasskalte Beleidung heißen Fleisches" sei, und wie man aus Rehkeule zartes Ragout zaubert. Von ihm hatte ich auch das Rezept des 5-Stunden-Lamms, von dem einer der geladenen Freunde sagte, nachdem ihm das Fleisch von der Gabel gefallen war: "So gut habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gegessen!" Kaum ein Gericht dieser Welt war vor meinen Experimentierversuchen sicher, am liebsten aber waren mir immer die französischen Speisen. Und so wurden die Coq au Vins, die Bouef Bourgignons, Zwiebelsuppen, Muscheln in Weißwein, Pot au Feus, selbstgemachte Fleischfondues und Bäckeoffe lange Zeit zelebriert. Zur Fleichfondue gab es die Sauce mit Olivenöl, Knoblauch, Zitronensaft und Pepperoni, die ich den Gauchos in Argentininen abgeguckt hatte. Nach der (allerdings ungarischen) Gulaschsuppe für hundert Personen wurde ich am nächsten Tag von einer Journalistin angerufen und nach dem Rezept gefragt. Es war einmal und es war eine herrliche Zeit. Einzig die Bouillabaisse habe ich nie in Angriff genommen. Geblieben ist, dass ich mich heute noch echauffiere, wenn jemand sagt, zum Bäckeoffe hätte ich doch auch grüne Bohnen servieren können. In den besseren Restaurants konnte man damals immer gut essen, und in jeder Wirtschaft auf dem Land kriegte man zumindest eins von diesen Schnitzeln, dessen Panade sich in einer dunkelbraunen Soße wellte. Das und der obligatorische Schweinbraten sind heute nur noch in bayerischen Biergärten zu finden.

Dann kam 2002 der Euro, und bald darauf musste ein Drittel aller Restaurants schließen, weil der Euro immer mehr 1:1 mit der DM ging und die Leute sich das Essengehen nicht mehr leisten konnten. Die Expansion des Fastfood tat ein Übriges, und wenn wir heute auf der Suche nach etwas Essbarem über die schwäbische Alb fahren, haben alle Lokale, in denen wir jemals waren, geschlossen. Die wenigen, die blieben, sind hoffnungslos überfüllt. Danach sind wir dann wieder auf belegte Brote, Eier und Tomaten ausgewichen. Bei mir persönlich nahm die Kochbegeisterung mit der Begeisterung zum Schreiben ab. In den letzten sechzehn Jahren fehlte es immer mehr an Zeit und Muße zum Kochen. Zu meinem Erstaunen tauchte vieles wieder in den Büchern auf, zuletzt die Küche Ludwig des Dreizehnten in meinem letzten Verlagsroman. Wenn ich es so richtig bedenke, hat mich die Frage danach, was man hier eigentlich früher zum Frühstück aß und das Buch von Peter Lahnstein "Wie man einst in Schwaben lebte" dazu gebracht, historische Romane zu schreiben. Es ist aber nun nicht so, dass ich heute noch Kochbücher lesen oder mir pausenlos Rezepte runterladen würde. Vor Ewigkeiten, nachdem mir eine angeblich verzweifelte junge Frau ein Hör-Zu-Abo aufgeschwatzt hatte, kaufte ich mir einen Computer, weil in der Hör-Zu stand, man könne mit dem PC Emails in alle Welt schreiben und 235 Rezepte für Sauerbraten finden. Von der Möglichkeit, ganze Bücher zu schreiben und zu veröffentlichen, hatte ich zu der Zeit keine Ahnung.

Die kulinarische Welt ist sehr geschrumpft und heute vor allem in den Küchenschlachten des Mittagsfernsehens zu bewundern. Es ist gut, wenn man ein paar Stammlokale in der näheren und weiteren Umgebung hat, meist Familienbetriebe, die über Jahrzehnte gleich gute Qualität und inzwischen auch Mittagstische zwischen 6 und 10 Euro haben. Die sind aber mehr in den Städten zu finden. Die Landküche ist zu unserem großen Bedauern oft hoffnungslos verödet, die Wirtschaften tot mit verstaubten oder gebrochenen Fensterscheiben. Wie war das noch mit dem "Lecker aufs Land"? Da fuhr immer so ein lustiger Bus irgendwohin, vielleicht zu irgendwelchen Land-Wirtschaften, aber ich habe immer gleich ausgemacht. Jetzt sehe ich, worum es geht: Das sind Bäuerinnen, die sich gegenseitig einladen und bekochen, wahrscheinlich auch mit Stimmabgabe, wer am besten ....Lecker aufs Land. Die Masse der Fernsehköche kenne ich gar nicht, wie ich gestehen muss. Aber Johann Lafer, Vincent Klink, Tim Mälzer und die schon verstorbenen Werner O`Faist und Katrin Ruegg sind mir ein Begriff. Für meinen Teil bin ich froh, dass ich die Glanzzeiten der Kochkultur noch erleben durfte und freue mich, wenn ich in Altensteig, in Nagold, in Sulz am Neckar, in Imnau, in Frankreichs Provinz oder einem kleinen Ort der Toskana noch einen Zipfel davon abbekomme.

Mittwoch, 6. Juli 2016

Auf den Spuren der Vergangenheit

Kürzlich haben wir einen Abstecher nach Meersburg am Bodensee gemacht. Diese Stadt ist wie ein Gedicht des Südens, mit alten Bürgerhäusern, Kirchen, Türmen, Palmen, Blume und dem alles durchdringenden Blau des Wassers. Und so trifft man auch überall auf Historisches, nicht zuletzt auf die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff, die einige wichtige Jahre ihres Lebens im Meersburger Schloss verbracht hat und dort auch gestorben ist. Ich hatte einmal vorgehabt, über sie zu schreiben und kenne deshalb das Innere des Schlosses schon sehr gut. Für die vielen Touristen mag es ein Event sein, nach Meersburg und auf das Schloss zu gehen. Die meisten werden gar  nicht wissen, dass die größte deutsche Dichterin hier gelebt hat. Aber selbst diese Touristen scheinen sich von "alten Gemäuern" angezogen zu fühlen, sieht man sich einmal den Zulauf in Rothenburg, in Dinkelsbühl und anderen historischen Stätten an. Es weht ein Duft von Vergangenheit herüber. Wenn ich mir überlege, was ich in den letzten zehn, zwanzig Jahren gemacht habe, dann war es eine permanente Spurensuche. Spuren von Menschen, die einmal gelebt haben, von großen und kleineren Ereignissen, auch von Verbrechen, die manchmal erstaunlich denen heutiger Zeiten ähneln. Alles wiederholt sich in der Geschichte. Vielleicht ist es die Sehnsucht nach Beständigkeit, die dahinterstecken könnte? Nach dem Wissen darüber, woher wir kommen und wohin wir gehen?

Auf der anderen Seite gibt es neben der Zersörung von historisch gewachsenen Dingen auch die Sehnsucht nach unberührter Natur, nach Abenteuer und Selbst-Erfahrung. Warum sonst sollten Zehntausende auf den schwimmenden Pontons des Verpackungskünstlers Christo auf dem Iseo-See gewandelt sein? Warum ist das zweite Buch des Försters Peter Wohlleben (von 2014) "Die Gefühle der Tiere" wieder auf Nr.1 der Spiegelbestsellerliste gelandet? Irgendwo scheint doch eine Sättigung eingetreten und der Wunsch nach dem Einfachen, das uns umgibt, nach Sinneserfahrung, entstanden zu sein. Bekanntlich habe ich mich mein Leben lang in der Natur, in einer historisch gewachsenen Umgebung und unter offenen, zugewandten Menschen immer am wohlsten gefühlt. In meinen Träumen gab es Industriegebiete und alte Städte mit intakter Umgebung. Aus den einen bin ich geflohen, die anderen waren "Heimat", in der man sich entfalten konnte. Genau, Heimat ist wie schon mal gesagt von einem Unwort zu einem Begriff mutiert. Alte Werte neu belebt. Es wird geheiratet wie nie zuvor, in Baden-Württembeg engagiert sich jeder zweite ehrenamtlich. Es ist eine Antwort auf die Ereignisse der Welt. Ich selbst mache jetzt bei der Aktion "Autoren helfen" mit, werde jeden Monat eins von den vielen Belegexemplaren meiner Bücher, meiner Spurensuche, an einen Paten der Flüchtlingsorganisation schicken.