Sonntag, 10. September 2023

Reise in die Vergangenheit

 Bei einer Fahrt zu einem Rechercheort musste ich kürzlich bitteres Lehrgeld bezahlen. Das Kloster Alpirsbach, das mir schon einmal als Romanvorlage gedient hatte ("Die Pilgerin von Montserrat") hat mir keinerlei Gefühl von dem vermitteln können, wie ich es damals bei der Recherche empfunden habe. Überhaupt scheint das Gespür für die Orte und Personen verlorengegangen zu sein. Ich sah nur Baustellen vorm Kloster, Verkehr ohne Ende im Kinzigtal, und das einzig Schöne war der Besuch in Wolfach (auch ein Spielort meines neuen historischen Kriminalromans), aber viel zu heiß und vom Verkehr durchjagd wie eine Straße der Landeshauptstadt. Für das Foto musste ich lange warten, bis kein Auto mehr kam.



In Freudenstadt mit dem arkadengesäumten Marktplatz von Heinrich Schickart dann das nächste Übel. Ich weiß, dass seit Corona überall Personal in den Gastwirtschaften fehlt und viele auch schließen mussten. Leider hat das zu einem fast völligen Verlust von dem geführt, was man früher einmal "gutes Essen" nannte. Was für herrliche Braten und Schnitzel gab es früher in dem Gasthaus unter den Arkaden, dessen Namen ich vergessen habe, und aus dem uns nun Leere entgegengähnt. Im bayerischen Stüberl, in dem ich einst versehentlich eine Papierserviette an der Kerze entzündete und die Kellnerin das mit dem Bier meines Partners löschte (wir lachen heute noch darüber) war das Essen damals noch genießbar. Jetzt weist ein Schild den hungrigen Gast an, stehen zu bleiben und sich einweisen zu lassen. In Dornstetten ist der Grieche mit seinem Spitzengyros kein Grieche mehr, statt dessen riecht es schon so übel, dass wir gleich wieder aufstehen und gehen. Beim Chinesen das Gleiche. Kein Büffet mehr, und kaum Gäste.
Freudenstadt im Schwarzwald



Wo ist die alte Zeit geblieben, die Zeit des freien Wählens, der Kulinarik, der Lebensfreude? Heute Abend haben wir es gesehen und erlebt. Sie hat sich in stille Winkel zurückgezogen, in Nischen, wo etwas von dem überlebt hat, was mich einmal zu ganzen Romanen angeregt hat. Wandern auf der Alb? Fehlanzeige! Nicht nur wegen der Hitze, der schöne alte Traufweg war verdorrt, verbreitert und von abgeholztem Gebüsch umgeben. Nur in Ebingen gab es erstaunlich viele Cafés und Wirtschaften und ein fröhliches Leben. 
Heute, nach einem wieder sehr heißen Tag (es gab in diesem  Sommer wohl, laut eines Zeitungsberichtes, 72 Tage, die zu heiß waren und ca. 25 Tage, die zu kalt waren) sind wir abends noch auf die Gündringer Höhe gefahren. Da saßen ein paar Alteingesessene vor ihrem Bier und ihrem Korn. Wir setzten uns an einen Tisch daneben, und bald kamen die Erinnerungen. Das Dorf mit seinen ganz besonderen Leuten, mit seiner ganz besonderen Wirtschaft, die seit Corona ebenfalls geschlossen ist. Hier, im Biergarten weitab von allem, genießen alle noch eine Narrenfreiheit, die Luft ist lau, die Sterne sind nicht zu sehen, die Wirtin ist müde, sie schuftet Tag und Nacht, aber sie macht das, weil sie ihre Gäste glücklich sehen will. Alle Figuren dieses Dorfes steigen vor unseren Augen wieder empor, die Lebenden und die Toten, die Nächte in den beiden Wirtschaften, der Martinsritt, die Silvesterfeiern der Jugend, die alles zerdonnerte und vernebelte, die Streiche  in der Nacht zum 1. Mai, der Waldschrat, der täglich mit seinem Rucksack in die Stadt wanderte und zurück und sich versteckte, wenn man ihn am Waldrand antraf. Die alte Frau mit den Katzen in ihrem Hexenhäuschen, das jetzt verfallen ist. All das hat mal gelebt und geblüht und gefeiert und ist mir so eingebrannt, dass ich vor einigen Jahren einen Krimi darüber geschrieben habe. Einen Mord gab es nämlich auch in dem Dorf, nach einer Feier im Festzelt. Da wurde eine Mutter von fünf Kindern nachts am Wegesrand von einem Mitzecher ermordet. Und das hat mich dazu gebracht, meinem Krimi "Martinsmorde" zu schreiben.

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