Freitag, 20. Mai 2016

Kopf hoch! Es gibt noch eine Welt da draußen

Vor etwa einer Woche saß ich in einem Vortrag über "Trauma und Sucht", inmitten einer Schar von zweihundert Leuten. Ein paar Reihen weiter sah ich einen Mann, der den Kopf gesenkt hielt und sein Smartphone checkte. Ob der sich wohl langweilte? Eigentlich fand ich es unhöflich, dass er nicht bis zur Pause warten konnte. Ich selbst habe bewusst kein Smartphone, und doch finde ich diese leichte Sucht und zwanghaften Strukturen auch bei meinem eigenen Internetverhalten. Doch dazu später. Dem Phänomen bin ich jetzt einmal nachgegangen. In einem Artikel der "Welt" vom letzten September wird von einem Versuch mit einer App berichtet, die anzeigen soll, wie viel Zeit man tatsächlich im Internet verbringt. Sie soll von 200 000 Menschen heruntergeladen worden sein, deren Daten bis dahin noch nicht ausgewertet wurden. Dabei gebe es 500 000 Internetsüchtige in Deutschland, berichtet die "Welt". Es gibt offensichtlich schon Therapiezentren (Video), in denen man in Selbsthilfegruppen zu einem bewussteren Umgang vor allem mit dem Handy gelangen kann. Sie gehe auch aufs Klo nicht ohne ihr Handy, berichtet eine Frau. Die meisten SMSe würden dort geschrieben. Der Grund sei die Angst, irgendetwas zu verpassen. 10 Minuten pro Tag telefonieren, der Rest von 2-3 Stunden bestehe aus Surfen, Emailsschreiben, Facebook und Spielen. Diese Menschen brauchen Anleitung, wie sie das suchtartige Verhalten eindämmen können, zum Beispiel "handyfreies Schlafzimmer"oder Wecker und Armbanduhr kaufen. Komisch, das ist mir noch gar nicht aufgefallen, dass viele überhaupt keine Uhr mehr am Handgelenk haben. Bei mir klingelt der Wecker punktgenau mit einer Batterie, die schon seit Jahren läuft. Wenn ich ihn denn überhaupt mal brauche. Warum kaufen sich Menschen alle zwei Jahre ein neues Smartphone für 700 Euro, wenn doch die meisten unter den Zwängen leiden, die es mit sich bringt? Es sei eine Sucht wie die nach Nikotin und Alkohol, wird gesagt.

Ich selbst lebe seit dem Milleniumsjahr 2000 mit dem PC, dem Jahr, in dem ich mir einen Computer anschaffte. Seitdem klebe ich daran wie eine Fliege am Leim, mit dem sie gefangen werden soll. Ich habe ihn mir gekauft, weil ich irgendwo gelesen hatte, damit könne man Emails in alle Welt schreiben und 200 Rezepte für Sauerbraten finden. Das erste Wort, das ich bei Google eingab, war "Wandern", das zweite "Schreiben". Nun kann man sich bestimmt denken, wie es weiterging. Mindestens zwei Sehnenscheidenentzündungen hatte ich während dieser Zeit. Und auch jetzt tut der Oberarm manchmal wieder weh. Das Schreiben und der Austausch vor allem mit anderen Schreibenden haben mir eine ganz neue Welt eröffnet, aber auch die Welt da draußen öfter von mir ferngehalten. Gottseidank habe ich die digitale Welt nicht nach draußen geschleppt, sondern war, wenn ich die Haustür hinter mir schloss, wieder in der Realität. Obwohl ich seit einem Jahr nichts Neues mehr geschrieben habe, klebe ich weiter an dem Ding. Die Verkäufe und die Vermarktung der E-Books mussten abgewickelt werden, neben den Recherchen wurden alle Fragen, die ich hatte, an Google gestellt, selbst die nach Adressen von Ärzten, nach Rezepten, Wandertouren oder der Bestimmung von Pflanzen. Vor Kurzem schickte ich Exposé und Leseprobe meines Krimis an einen Agenten. Bei der Prozedur lief nebenher der Fernseher, und in der Küche brannte der Espresso an. Da merkte ich, dass es wirklich zu einem Ding geworden war, das mich in der Hand hat und mich beherrscht. Die Agentur schickte übrigens nach einer Woche eine Absage. Ich beschloss, erst einmal eine kreative Pause einzulegen. Eine gute Zusammenfassung der momentanen Situation von Verlagsautoren und Self Publishern, auch was den Suchtfaktor angeht, gibt es heute übrigens im Literaturcafé.

Gestern fuhr ich den PC nach dem ersten Check herunter und habe ihn erst abends wieder angemacht. Und war dann unterwegs. Es gab viel zu sehen und zu erleben: Bücher zum Mitnehmen in der Bücherei, tausend Düfte in einem Drogeriemarkt, einen Abendhimmel mit rosa Schichtwolken und überall Töpfe mit Geranien, Gerbera, Petunien und Glockenblumen. Die habe ich im Abendsonnenschein auf der Terrasse eingepflanzt. Im Café hatte niemand ein Smartphone neben seiner Tasse, und es lief auch niemand mit so einem Ding vorbei. Alle Köpfe waren oben. Ob die sich wohl schon so eine App heruntergeladen hatten? Es gibt so viel in dieser Welt, das es wieder zu entdecken gibt! Am Sonntag ist bundesweit Tag der Museen, da werden sie auf der Ringmauer in Horb feiern und mit Arkebusen schießen. Am 4. Juni kommen Bands nach Nagold; darunter Dr. Gonzos Rock- und Bluesband. Und danach werde ich es dann vielleicht doch einmal schaffen, nach Huesca und Zaragoza und zum Kloster San Juan de la Peña in den Pyrenäen zu fahren. Ich klopfe auf Holz, denn es war der erste Tag, an dem ich dem Computer etwas weniger auf den Leim gegangen bin. Nach Verfassen dieses Artikels verlasse ich die digitale Welt erst einmal wieder.