Gestern haben wir eine Wanderung gemacht, die uns die Augen in bestimmter Weise öffnete. Es war ein Weg, den wir schon seit Ewigkeiten kannten und den ich nie in der Öffentlichkeit beschrieben hätte. Unser privater kleiner Geheimtipp also. Der Himmel war leuchtend blau, die Kirsch- und Birnbäume blühten, alles war grün, alle Blumen waren auf einmal da, explosionsartig über Nacht aus dem Boden gebrochen. Und es geschah etwas, das wir noch niemals erlebt hatten: Auf diesem Weg begegneten uns Hunderte von Menschen, zu zweit, in lärmenden Gruppen, zu Fuß, per Fahrrad, zu Pferde, mit Kinderwagen und Walkingstöcken. Eine Art Unbehaglichkeit stellte sich ein. Wie kamen diese Massen plötzlich an diesen Ort? Durch das Internet, meinte mein Begleiter, die rufen sich zusammen und marschieren dann los. Durch das Wetter, sagte ich, die wollen einfach alle nur wie wir das schöne Wetter und die Baumblüte erleben. Wandern ist wieder in, die Wandervogel-Verstaubtheit vergangener Tage ist passé. Man sollte an sonnigen Sonntagen, zumal im Frühling nach Monaten der Dunkelheit und Kälte, bestimmte Orte meiden.
Wir zogen weiter und mussten feststellen, dass natürlich auch alle Cafés überfüllt waren. Schließlich fanden wir einen Ort, nicht ganz so spektakulär, an dem wir, mit Blick auf die grandiose Kette der schwäbischen Alb, doch noch in aller Ruhe unsere große Runde drehen konnten. Ich habe darüber nachgedacht. Und fand soeben einen Artikel in einem Wandermagazin, der schon ein bisschen älter ist, aber genau das beschreibt, was mit dem modernen Menschen vor sich geht in einer beschleunigten Zeit, die ihn seiner inneren Stabilität beraubt. Der Hunger nach Entschleunigung. Autor ist Ulrich Grober, er hat das von mir so stark erlebte Buch "Wandern. Neue Wege zu einer alten Kunst" geschrieben. Der Hunger nach Entschleunigung soll übrigens auch junge Mneschen ergriffen haben. Zeitschriften mit Anleitungen zur Achtsamkeit, zur Handarbeit statt ständigem Kopfkino, zu Lesen statt zum Fernsehen und Computern und fürs Zusichselberkommen hätten Hochkonjunktur Zehntausende von Auflagen. Vielleicht waren all diese Mneschen , denen wir da begegnet sind, beflügelt von dem Wunsch nach Auszeit, Entschleunigung und Einssein mit der Natur und mit sich selbst. Und mussten zu ihrem Schrecken feststellen, dass Hunderte den gleichen Gedanken hatten!
Die Gedanken zur Entschleunigung sind übrigens mitnichten neu. Schon die schwäbischen Dichter, mit denen ich mich gerade beschäftige, warnten vor der Beschleunigung allen Lebens. Das fing im neunzehnten Jahrhundert mit der Industrialisierung, den Dampfmaschinen und den ersten Eisenbahnen an. Justinus Kerner, hingebungsvoller Arzt, Geisterseher, Dichter und weltmännische Gastgeber aus Weinsberg, veröffentlichte im Jahr 1852 sein "Eisenbahn-Gedicht. Darin die letzte Strophe:
Fahr zu, o Mensch! Treib's auf die Spitze,
Vom Dampfschiff bis zum Schiff der Luft!
Flieg mit dem Aar, flieg mit dem Blitze!
Kommst weiter nicht als bis zur Gruft.
Liebe Christa,
AntwortenLöschenist ja ein schöner und wichtiger Ansatz, was Grober sagt, aber seine Abscheu gegen Premiumwege als angebliche "Marken" kann ich nun wirklich nicht verstehen, die ist sehr gestrig.
Wir haben vor Jahren den "Grenzgängerweg" zwischen dem elsässischen Wingen und dem deutschen Nothweiler geschaffen, der heute ein Premiumwanderweg ist. Aber da ging es um etwas völlig anderes! Nämlich dem heutigen Menschen - allen Altersklassen, Nationen und Schichten - eine kleine Handreichung zu geben für das, was sie nicht mehr "sehen": die gemeinsame Geschichte, die Anekdoten, Wissenswertes über Arten und Ökologie etc.
Wir wählten dafür einen idealen Rundwanderweg, der schon immer da war, aber nun von den Kommunen gesäubert wurde (jetzt liegen da eben nicht mehr gefällte Bäume quer). Und stellten nicht die üblichen Hinweisschilder auf, sondern gestalteten künstlerisch eine Zwiesprache mit der Natur und den Orten.
Auf so einem Weg konnte schon immer jeder wandern, aber die meisten sahen nichts außer Bäumen. Viele wunderten sich über komische Gebilde im Wald und keiner erklärte es ihnen. Jetzt erfahren sie die Gebilde tastend, entdeckend, mit Kunst daneben und Herausforderungen für die Kinder. Sie können vor sich hinwandern, aber sie können sich auch die Geschichten erzählen lassen vom Minenbau und von den Kelten, vom Irrsinn der Kriege und Raubrittern - schon gewinnt der Weg eine Dimension dazu.
Man muss den Menschen heute Geschichten erzählen, auch in der Landschaft - sie kennen sie nicht mehr!
Unser Team war höchst überrascht, als unsere Arbeit viel später das Label "Premiumwanderweg" verliehen bekam. Nein, das ist keine "Marke", das ist schlicht eine Auszeichnung, dass ein Weg bestimmte Voraussetzungen erfüllt und besonders empfehlenswert ist. Das macht vielleicht den Weg etwas voller, aber dafür die Parallelwege im Wald einsamer.
Wir haben uns bei dieser Arbeit viel mit den modernen Gewohnheiten der Touristen und Wanderer beschäftigt. Die sind anders als früher. Anders, als Grober sie gern hätte. Heute müssten wir zum Weg nicht die Broschüre fertigen, sondern auch noch eine App. Man darf nicht vergessen, dass solche Wege mit Label der Entwicklung ländlicher Gebiete dienen. Oft ist dort, wo man sie schafft, weder Industrie vorhanden noch gibt es sonst viele Arbeitsplätze. Diese Regionen leben vom Tourismus, aber die Menschen sind wählerisch. Man muss auch etwas tun, damit der Tourismus sanft bleibt, muss die Menschen leiten und Qualität schaffen.
Wer auf einem Premiumwanderweg etwas erlebt, wird nicht nur spielerisch an die Natur herangeführt - er zerstört auch nicht so schnell aus Langeweile etwas im Wald. Auch das muss heute bedacht werden. Unser Naturpark setzt mit Erfolg auf solche Konzepte und es könnten eher mehr sein ...
Wer Auszeiten von Menschen und "Entschleunigung" sucht, der geht heutzutage ins Kloster oder in die Wüste oder stapft über die Sumpfwege, die nur in Gummistiefeln zu machen sind. Aber selbst auf Premiumwanderwegen entschleunigen viele ... wir dürfen nicht vergessen, dass viele Menschen heutzutage richtig Angst vor der Natur haben und erst langsam wieder herangeführt werden müssen!
Herzlichst, Petra
Herzlichen Dank für diese ausführliche Stellungnahme, Petra! Wäre eigentlich ein eigener Blogbeitrag zum Thema. Das mit den Marken hatte ich eigentlich mehr auf die Klamotten ud die Rucksäcke bezogen als auf die Premiumwanderwege. Aus eigener Anschauung kenne ich nämlich Wege, die durch die von dir beschriebenen Dinge sehr gewonnen haben. Sie erzählen Geschichten über die Natur, über Burgen und Ruinen und darüber, wie die Menschen dort früher gelebt haben. Die Premiumwanderwege sind neben der Bereicherung der Wanderer,der "Kanalisierung" des Wandererstroms und der Heranführung an die Natur, vor deren Leere viele Angst haben (man ist ja plötzlich wieder mit sich selber konfrontriert)sicher ein gutes Instrument des sanften Tourismus. Ich glaube, dass Grober nicht unbedingt gestrig ist, sondern individueller denkt. Was er auf seinen Wanderungen erlebt hat, hätte er auch im Kloster oder in der Wüste erleben können - oder eben auch nicht. Es geht ihm, so habe ich ihn verstanden, um eine ganz besondere Art des Unterwegs-Seins. Von der bin ich auch noch meilenweit entfernt! Dieser schöne Weg, den ich beschrieben habe, war übrigens ein stinknormaler Weg, auf dem sich in de letzten 20 Jahren nichts verändert hat-da stehen immer noch die halbverfallenen Hüttchen, alte Bänke und ein paar altmodische Hinweise auf Baumarten und Vögel. Dass eine solche Unmenge von Menschen unterwegs war, ist bestimmt auf den Sonntag, das schöne Wetter und die Baumblüte zurückzuführen. Und du hast recht, wenn es dort zu voll wird, bleiben immer noch die Nebenwege im Wald. Durch den Sumpf würde ich ja nun nicht gerade waten wollen. ;-)
AntwortenLöschenHerzlichst
Christa