Donnerstag, 25. Januar 2018

Eine Frage des Alters?

Figur am Portal des Heilig-Kreuz-Münsters in Schwäbisch Gmünd
Ändert man im Lauf des Lebens seine grundsätzlichen Einstellungen? Entwickelt man, wenn man älter wird, einen Blickwinkel, den man zwangsläufig mit anderen teilt? Diese Frage stellte sich mir heute nach einer (teilweise) schönen Tour ins Remstal (Lorch, Schwäbisch Gmünd). Warum sie nur teilweise schön war, erschließt sich aus dem Folgenden. Danach kehrten wir im Luginsland in Stuttgart ein, wo wir fast immer absteigen, wenn wir in der Gegend sind. Es ist die Kinderheimat meines Lebensgefährten, der in der Nachkriegszeit in den Weinbergen herumstreifte, zur Schule ging und in den Räumen der Zeitung Tarzan-Comics verschlang. Das erste Mal war ich an einem Ostermontag 1999 in der Gegend gewesen. Wir waren einen Weg durch blühende Obstbäume ins Weindorf Uhlbach hinunter gestiegen und hatten in einem Kastaniengarten schwäbischen Rostbraten zu uns genommen, in Gesellschaft eines älteren Ehepaars, sie mit einem bezaubernden, duftigen Hut. Dieses Gasthaus Luginsland ist eine Oase im Getriebe der Stadt. Mein Partner hat hier schon als kleiner Junge Zigaretten für den Vater holen müssen, und das grundsätzliche Aussehen und die Philosophie haben sich niemals verändert. Man isst gut bürgerlich, und abends sitzen die Leute gemütlich am Stammtisch zusammen. Nach dem sehr guten Kalbsschnitzel in Rahmsoße mit Pilzen, natürlich mit Spätzle, stellte uns der Ober (eine absolute, zurückhaltend-humorvolle Koryphäe!) eine Frau vor, die in derselben Straße wohnte wie mein Partner damals als Kind. Tatsächlich stellte sich heraus, dass ein Klassenkamerad von ihm samt Frau und Sohn noch dort wohnt (nach über sechzig Jahren!) Die Frau musste sehr lachen über die Erzählungen meines Lebensgefährten. Und stimmte zu, dass der Stadtteil Luginsland nach Fellbach hin dermaßen grausig überbaut worden ist, das niemand, der damals hier gelebt hat, es wiedererkennen würde. Das hatten wir auch auf dem Weg ins Remstal gesehen. Es gibt nur noch Inseln von Feldern und Äckern zwischen den langgestreckten Industriegebieten, und hinter Schwäbisch Gmünd herrschte der Verkehrsinfarkt. Sind wir nur empfindlicher geworden mit der Zeit, würde es uns nichts ausmachen, wenn wir jünger wären? Ich glaube es nicht. Ich weiß noch, wie ich mit meinen Freundinnen im Alter von etwa elf Jahren durch die Wälder und Schluchten von Wassersleben bei Flensburg streifte, fern unter uns die blaue Flensburger Förde. Bei der Vorstellung, dass eine Schnellstraße vorbei an unserem Backsteinhaus mit dem großen Garten vorbeiführen sollte, damit die Leute schneller zum Einkaufen nach Dänemark kamen, litten wir tausend Tode. Denn in dem Garten gab es Igel und in der Ecke mit den Buchen Krause Glucken, und nachts stiegen die Rehe über den Zaun und fraßen meinem Vater die Rosenkohlköpfe weg. Im Wald dahinter gab es einen Findling oder Menhir, es gab verschlungene Wege durch dichte hohe Ilexbüsche und Blätterkuhlen, in denen man Winterschlaf halten und im Frühling wieder aufwachen konnte. Im Lauf der Jahre beobachtete ich in allen Städten, in denen ich lebte, wie immer mehr Natur und Gärten in Autoparkplätze, Industriegebiete und Kaufhäuser umgewandelt wurden. Im internationalen Kindergarten, in dem ich arbeitete, hatten wir zwei Bücher, die hießen: "Hier fällt ein Haus, dort steht ein Kran, und ewig droht de Baggerzahn" und "Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder". In Folge von Gartenschauen (wie 2012 in Nagold) schießen neue Wohngebäude in die Höhe, immer unter dem sozialen Deckmantel des bezahlbaren Wohnens. (Was sich meist schnell verflüchtigt). Die Menschen mauern sich ihre Grundlagen zu, sie versiegeln ihre Ressourcen, wundern sich über die Unwetterkatastrophen und fallen massenhaft in den Naturpark Nordschwarzwald ein, um sich von den Folgen dieses Missbrauchs zu erholen. Und das ist etwas, das wir wohl schon als Kinder erkannt haben, als wir ein Gespür für unsere Umwelt entwickelten. Heutige Kids können das vielleicht gar nicht mehr, weil sie nichts anderes kennen als Glas und Beton. Neulich habe ich sogar gedacht: Ob der Wolf, über den ja gerade so viel diskutiert wird, in einer solchen Umwelt überhaupt leben möchte? Hier ganz in der Nähe wurden ja auch schon Risse gefunden, es wurde einer totgefahren und einer erschossen. Nicht der Wolf ist eine Gefahr für den Menschen, sondern der Mensch eine Gefahr für den Wolf.

Sonntag, 14. Januar 2018

Hinterm Horizont gehts weiter



Beurener Heide (schwäbische Alb) 2013
In diesen trüben Tagen, die nicht nur gefühlt schon endlos dauern, gehen mir immer wieder zwei alte Songtexte im Kopf herum: "Here Comes the sun" von den Beatles (Abbey road) und "Hinterm Horizont geht's weiter" von Udo Lindenberg. Eigentlich ganz naive Texte, die nicht für sich alleine stehen könnten, aber unvergesslich interpretiert wurden. Beide handeln vom Dunkel in uns und um uns, das unweigerlich vom Gegenteil abgelöst wird - so ist das Gesetz der Natur. Dank seiner Mobilität kann der Mensch dem für kurze Zeit entfliehen, indem er per Jet in wärmere Länder entflieht oder, wie wir gestern, eine kurze Auszeit lang in die Sonne fährt. In Offenburg schien sie mehrere Stunden, und wir haben die Stadt ganz neu entdeckt. Viele französische Wortfetzen waren zu hören, viel badische Lebenslust war in den Straßen, den Cafés zu spüren. Sogar die Autofahrer schienen uns humorvoller und souveräner als bei uns im superschaffigen (und manchmal auch muffigem) Schwaben. Und natürlich haben wir uns wieder vorgenommen, spätestens im Februar dem Frühling entgegenzufahren. So, wie es Goethe mit seinen Ländern meinte, in denen die Zitronen blühn. Irgendwie hatte ich immer gedacht, früher hätten die Schriftsteller an der Côte d’Azur überwintert. Das stimmt aber gar nicht. In Nizza waren russische Literaten wie Gogol und Tschechow zu Gast, bedingt durch den Aufenthalt des Zaren. Thomas Mann und weitere 500 Deutsche hielten sich zwischen 1933 und 1942 teilweise in Sanary-sur-Mer, in Bandol und Le Lavandou auf. Aber nicht, weil letztere so viel Geld hatten und die Sonne genießen wollten, sondern weil sie auf der Flucht vor den Nazis waren. Im nicht so fernen Süden lässt es sich weniger gut überwintern. Im Tessin fror sich Hermann Hesse einen Ast ab und floh nach Bern, um wenigstens etwas Wärme, Gesellschaft und Kultur zu haben, Nietzsche drehte seine philosophischen Runden in Sils Maria, und Heinrich Böll lebte zeitweise in Irland, wo er sicher einen Anflug von Freiheit fand.

Nichtsdestoweniger sollen Stare, die in den Süden fliegen, weniger oft sterben als ihre Artgenossen, die im alten, dunklen Nordwinter bleiben. Was also bleibt einer Autorin übrig, die sich einfach nur nach der Sonne sehnt und auch kein größeres Projekt an der Hand hat, mit dem sie in andere Gefilde abheben könnte? Nach achtzehn Jahren des intensiven Schreibens, nach einer Zeit des Überarbeitens der letzten zu veröffentlichenden Texte ist sie zunächst einmal frei, die Welt steht ihr offen. Persönlich hat sie Wertschätzung durch die Verlage erfahren, man hat sie nie rausgeschmissen, man hat sich um ihre Werke gekümmert. Was die finanzielle Seite angeht, hat sie wie meisten Autoren eine solche Wertschätzung nicht erhalten, und auch andere Künstler und Kreative nicht. Doch das ist eine andere Geschichte, die an anderer Stelle schon diskutiert wurde. Ich versuche die Kollegen zu unterstützen, indem ich die Bücher derer kaufe, die ich schätze. Ich halte meine Augen auf. Die größte Wertschätzung aber erfahre ich von einem Verlag, der mir nach achtzehn Jahren immer noch einen Weihnachtsgruß schickt und von der Leiterin des Verlages, die Interesse an meinen vier letzten Büchern gezeigt hat. (Leider ist sie Ende des Jahres dort ausgeschieden). Sie schrieb, sie freue sich darüber, dass ich bei der Unterbringung meiner Werke auch in ihren Verlag gedacht hätte.

Ach so, ja, was bleibt einer solchen Autorin übrig? Sie wird fahren und die Sonne putzen.

Dienstag, 2. Januar 2018

Lichtblicke

Alte Zollstraße in Wassersleben
Wenn wir früher an Weihnachten in Flensburg waren, genauer gesagt in Wassersleben an der Flensburger Förde, wurde es meist gar nicht richtig hell. Umso stärker sind mir die Kerzen des Weihnachtsbaums in Erinnerung, untermalt vom Duft nach Räucheraal und frisch gepulten Nordseekrabben. Die Straße im Bild, die Alte Zollstraße meiner Kindheit und Jugend, führt nach wenigen hundert Metern ins dänische Grenzland, wo wir die roten Hotdog-Würste, Sild, Makrelensalat und Kaminstreichhölzer kauften. Abseits vom Großen Rummel sind mir diese Licht-Blicke auch weiterhin wichtig geblieben. Diesmal waren es in der Zeit drei Ereignisse, die mir vom Jahresende in Erinnerung bleiben werden: Das alljährliche Fackelfeuer in Altensteig, das wir schon häufig direkt aus der Nähe erlebt haben. Superspannend immer der Moment, in dem das Feuer entzündet wird und ein heftiger Schwall heißer Luft herüberschießt. Wir standen diesmal zusammen mit anderen auf dem oberen und unteren Marktplatz und konnten beide Feuer vor der historischen Kulisse sehen, dazu die tausend Lichtpünktchen der Fackelträger, die hin und her wogten.

Der zweite Lichtpunkt war der Besuch unseres Lieblingslokals in Reutlingen, Alexandre. Für uns ist es immer ein Genuss, dort zu sitzen, ob drinnen oder draußen, die Leute zu beobachten und mit den stets dienstbereiten und freundlichen Kellnern zu plaudern. Über das Essen können wir wenig sagen, aber ein oder zweimal war es gut. Wir bestellen meist zu zweit einen Pfannkuchen mit Apfelmus, Schokoladensoße und Vanilleeis. Die Bedienung war diesmal eine junge Frau, die in Villingen das Hotelfach studiert. Mir wurde klar, wo der Unterschied zwischen einer solchen Kraft und ungelernten Bedienungen liegt. Die haben wir leider bei einem Chinesen erleben müssen, der im Lauf des Jahres immer schlechter wird und sich trotzdem ungemeiner Beliebtheit erfreut. Das falsche Essen, das mir serviert wurde, riss die unfreundliche Kellnerin mir aus der Hand, um mir kurz darauf das richtige zu bringen, nur war die Ente dann ungemein knorfelig und kostete auch noch fünf Euro extra.

Und nun zu Nummer drei, einem Besuch in Esslingen am gestrigen Neujahrstag. Die Stadt war voller Lichter, Menschen bummelten friedlich umher. Es hatten nur wenige Cafés geöffnet, aber bei Segafredo ging es sehr familiär zu. Höhepunkt war ein Besuch der Stadtkirche St. Dionys. Rechts und links des Altars standen leuchtende Christbäume, die romanischen Säulen, der gotische Chor und das Gestühl sind einzigartig. Zwei junge Männer fragten uns, ob sie auch in den Chorraum hinter dem Altar gehen dürften, sie seien orthodox. Die Einladung, sich alles anzuschauen, nahmen sie mit Staunen entgegen. So ist dieses Jahr 2017 voller Licht zu Ende gegangen. Die paar Raketen im Städtle machten den Kohl dann auch nicht mehr fett. Wichtiger war für mich die Überarbeitung des Schwarzwaldkrimis, in dem von Raunächten und einem verschwundenen Pfarrer die Rede ist. Und für mich bedeutet das Ganze vor allem, dass es jetzt jeden Tag ein paar Minuten später dunkel wird. Allen meinen Lesern und Leserinnen wünsche ich viele solcher Licht-Blicke im Jahr 2018, das gerade erst begonnen hat.