Dienstag, 27. September 2016

Monopoly für die Seele

Seit einem Jahr und drei Monaten bin ich nun Mitglied einer allmählich erstarkenden Gruppe: der RentnerInnen in Deutschland. Was für Vorstellungen hatte ich gehabt, was davon hat sich erfüllt und was hat sich als völlig andersartig erwiesen? Ich denke noch an die Geschichte von dem Mann, der ein Vogelhäuschen baute, dann noch eins und so viele, dass sich am Schluss die Vögel über seine Verschwendungssucht beschwerten. Der allmählich vertrottelt im Morgenmantel herumlief und die Mitglieder von esoterischen Gruppen brüskierte. Vorsicht, warnten die Ratgeber, mit ihrem Lebensgefährten werden Sie jetzt viel mehr Zeit verbringen als zuvor. Und der wird Ihnen auch mehr reinschwätzen als zuvor. Dem wollte ich entgegenwirken. Tätig sollte der Tag zu Ende gehen, sozial und kreativ wirksam, selbstverständlich. Dazu würde ich große Reisen machen und weitere Bücher schreiben. Doch wie so oft im Leben kam es ganz anders. Im Juli 2015 gab es einen Todesfall, der mir mit erschreckender Klarheit vor Augen hielt, dass ich das letzte lebende Mitglied dieser Familie sein würde. Auf der anderen Seite waren die neue Freiheit von jeglicher Arbeit und von allen Terminen, die monatelangen Sonnentage wie ein Rausch, dem ich mich voll und ganz hingegeben hatte. Der Winter aber ist ein harter Mann. Der Lebensgefährte hat mir nicht reingeschwätzt, sondern hat mich ständig mit Fluchtgedanken - Deutschland sei unbewohnbar geworden - und Auswanderungsgedanken aus demRuder geworfen. Du entkommst dir nicht, und anderswo kochen sie auch nur mit Wasser! Nicht nur einmal habe ich, die friedfertigste Person der Umgebung, mit der Faust auf alles mögliche eingehauen.

Eines Tages, oder innerhalb von Wochen, dachte ich mir: Wie wäre es, wenn ich wie beim Monopoly sagen würde: Gehe zurück auf Los. Ziehe keine 4000,- DM ein. Vergiss alles, was du bisher erlebt, was du studiert, gearbeitet und geschrieben hast. Erinnere dich an die selbstwirksamen Elemente dieser Zeiten, denke an den roten Faden, der dieses Webtagebuch seit den fast zehn Jahren durchzieht, die es jetzt existiert. Resilienz und Achtsamkeit, das waren meine Stichworte, und die hat uns unsere Supervisorin auch in einer der letzen Stunden ans Herz gelegt. Man kann niemandem helfen, wenn man sich nicht selber helfen kann. Die Likes, die ich in mehr als vier Jahren bei Facebook vergeben habe, waren der vergebliche Versuch, anderen etwas zu geben, was ich selbst gut hätte brauchen können. Wohlgemerkt, die Likes, an Informationen und echtem Austausch habe ich vieles mitbekommen. Aber es hat so müde gemacht auf die Dauer. Ebenso die Versuche, gegen Buchmarktmühlen anzurennen.

Jetzt bin ich eine neue Rentnerin. Oder zumindest im Begriff, eine zu werden. Ein Vogelhäuschen gibt es schon seit zwei Wintern, das stammt von irgendeinem Bauernmarkt. Der Morgenmantel wird gar nicht erst angezogen, die esoterischen Gruppen gar nicht erst besucht. Geholfen wird dort, wo die Hilfe nicht in einem Fass ohne Boden versinkt. Die vielgelobten Tiere als Aufgabe für RentnerInnen brauche ich nicht, denn sie sind ständig anwesend. Nach der geliebten Katze, die mich monatelang besuchte, ist gegenüber wieder ein neues Kätzchen da, das an meinem Walnussbaum hochspringt, wieder runterfällt und noch etwas scheu meinen Wohnraum erkundet. Dompfaffen und Rotkehlchen machen es sich auf den Gartenstühlen gemütlich, Eichhörnchen sammeln Nüsse und vergraben sie im Beet, Amseln und Elstern zetern im Verbund oder singen des Abends Melodien. Und nachts schreit in der Ferne immer wieder ein Esel. Der Nachbarsjunge donnert jetzt nicht mehr so oft seinen Ball an die Garage, er pfeift nicht mehr aus Angst, das verboten zu kriegen, denn wir haben uns über seiner kleinen Katze versöhnt. Was mir gut tut, weiß ich und weiß ein jeder, der diesen Blog regelmäßig verfolgt. Kleine und große Wanderungen, Ausflüge abseits der Autoströme und Baustellen, gutes Essen, gute Bücher, empathische und authentische Menschen, Kultur und Abwechslung und das Schreiben ohne Gedanken an das, was daraus werden könnte. Am Wochenende fahre ich zu einem Autorentreffen in Oberursel, das ist eine schöne Abwechslung und Bereicherung meines digitalen Alltags. Und einige von diesen Gedanken fand ich bei meiner sehr geschätzten Kollegin Petra van Cronenburg wieder. Ist das Müll oder kann das weg?

Herbsttag

Und noch ein Herbstgedicht, das ich, neben dem von Eduard Mörike, immer am meisten gemocht habe:

Herbsttag
HERR: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
Und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
Gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
Dränge sie zur Vollendung hin und jage
Die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
Wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
Und wird in den Alleen hin und her
Unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke (1875-1926)
(Herbst 1902)