Freitag, 1. April 2016

Blaue Stunden

Eigentlich wollte ich diesen Beitrag mit den Worten "Blaue Blumen " betiteln, merkte dann aber, dass der Begriff nicht das trifft, was ich sagen wollte. Die Blaue Blume ist ein Begriff der Romantik und bezeichnet die Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem, Unendlichen. Dabei ist sie ein Symbol für die Verbindung von Mensch und Natur sowie des Wanderns geworden. Geprägt wurde er durch den Dichter Novalis, der den frühen Tod seiner jungen Geliebten in seinem Roman "Heinrich von Ofterdingen" verarbeitete. Der kleine Ort Ofterdingen liegt übrigens nicht weit von hier: Wenn wir zur schwäbischen Alb hinüberfahren, durchqueren wir häufig diesen schmucken Platz, an dem inzwischen auch eine Gedenktafel für den "Heinrich" aufgestellt wurde. Nicht nur deswegen ist Ofterdingen ein besonderer Ort (auch wenn die Gestalt des mittelalterlichen Heinrich natürlich fiktiv sein müsste), sondern auch wegen der großen Ammoniten, die hinter der Brücke im Fluss zu sehen sind, allerdings nicht bei Hochwasser. Es sind die Tintenfische der Urzeit, die hier vor Jahrmillionen im Jurameer wohnten und allmählich versteinerten (um nicht zu sagen: verkalkten). Die blaue Blume bedeutet auch eine Art von Todessehnsucht, und die habe ich nicht gemeint. Eher Sehnsucht nach Leben.

Die blaue Stunde dagegen ist die Zeit zwischen Dämmerung und Nacht, wenn Himmel und Landschaft in einem besonders intensiven Blau erscheinen. Das hat für Fotografen eine besondere Bedeutung, aber war auch für Dichter und Schriftsteller schon immer eine, wenn auch melancholisch gefärbte, Inspiration. Der Übergang zur Nacht - darin liegt wohl das Gemeinsame der beiden Begriffe. Ich hingegen habe dieses Bild schon immer anders interpretiert. Die blaue Stunde war stets
der Moment, an dem sich etwas wandelte und etwas Neues entstand. Ein magischer Augenblick, in dem das Innere nach außen trat, wie aus einem Traum heraus. Das ist das eigentlich Romantische daran. Aber es kann auch ein seelischer Wandlungsprozess sein, der uns hilft, die vielbesprochene Resilienz zu erreichen und damit einen Schutzzaun gegen die zeitweise unerträglichen Außenbedingungen aufzubauen. Magische Momente und blaue Stunden habe ich in meiner Studentenzeit erlebt, wenn ich mich auf einer Reise frühmorgens oder abends mit dem Schiff einem fremden Land näherte. Oder wenn wir zur Dämmerstunde in einen Landgasthof fuhren, um mit Freunden zu tafeln. Eine Nacht auf einem Felsen hoch oben in der Provence, mit einem kleinen Ballon Rosé und den Lichterketten unter unseren Füßen. Die Fledermäuse, Nachtigallen und Glühwürmchen auf dem Zeltplatz. Blaue Stunden waren die Spaziergänge und Wanderungen durch Löwenzahnwiesen, Rosengärten und Blaukissenwälder, in denen es später nach Bärlauch duftete. Es waren Besuche in Kirchen mit Figuren, die in hellblaue Himmel aufstiegen oder mit streng gotischen Gewölben, Begegnungen mit Menschen, das gemeinsame Lachen über komische Situationen oder auch Bücher oder Blogeinträge, die auf irgendeine Weise berührt haben und unvergesslich wurden.

In den letzten zwei Wochen waren die blauen Stunden wie Perlen einer Kette, die selten auftraten, aber nachhaltig alles Trübe verdrängen konnten. Eine Wanderung wie jedes Jahr im Donautal, an dessen Hängen Millionen von Leberblümchen und Märzenbechern in voller Blüte standen. Ein Essen in einem traditionellen Gasthof, wo es noch so schmeckte wie früher. Eine Fahrt in den Klosterort Gengenbach, mit explodierenden Magnolien, Forsithien und Veilchen und einem bunten Leben und Treiben. Die blauen Scillawiesen bei Herrenberg. Ein Buch über den "Winter der Welt" von Ken Follet, den ich lange Zeit links liegen gelassen hatte. Und nach jeder blauen Stunde musste man wieder eintauchen in diesen Winter. Dann stöberte ich mit roten Ohren in den Büchern eines literarisch-unterhaltsamen Agenten. Dachte an die Stunden, in denen Ideen zu Romanen entstanden waren, die Stunden des rauschhaften Schreibens. Das alles hat dazu beigetragen, dass sich mit einem Mal die Schreiblust wieder regte.

Ich legte meinen Neonazi-Südamerikaroman erst mal beiseite, kramte meinen dreieinhalb Jahre alten Schwarzwaldkrimi heraus und überlegte, was mir der einzige Verlag, den ich bisher kontaktiert hatte, dazu gesagt hatte. An einigen Stellen nicht spannend genug. Ich druckte mir den Text 20-seitenweise aus und begann zu lesen. Ich dachte, die Lektorin hätte die Beschreibungen gemeint, dass die einen Krimi bremsen würden. Aber das Ambiente wurde ja durchaus gelobt. Nicht schlecht, was ich da las, aber da waren ja ganz schön viel Dialoge, vielleicht die Hälfte. Das lese ich selbst nicht gern, wenn das ganze Buch nur daraus besteht. Und - eine uralte Schwäche von mir - in diesen Dialogen wird an einigen Stellen zu viel wiederholt. Also machte ich mich daran, diese Stellen zu straffen und zu kürzen, mindestens fünf Seiten sind dadurch schon auf der Strecke geblieben. Außerdem bekommt der Roman noch eine wichtige neue Perspektive, die mir damals die ganze Zeit im Hinterkopf herumgeisterte, die ich aber nicht realisieren konnte. Genauso wird es mir mit dem anderen Roman ergehen. Wenn ich ihn eine Weile liegen lasse und dann wieder lese, wird es mir wie Schuppen von den Augen fallen. Ich ahne schon jetzt, welche Perspektiven, Schauplätze und Zeitläufte fehlen, um ihn richtig rund zu machen. Solche Dinge, solche Erlebnisse und auch solche Erkenntnisse sind für mich blaue Stunden.