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Portal des Erfurter Doms |
Kaum waren wir zurück von einem mehrtägigen Kulturtripp, meldete das Fernsehen, dass eine halbe Million Besucher auf der
Gamescom in
Köln gewesen sei. Youtube-Filmemacher würden gefeiert wie Popstars, und
mit neuen speziellen 3D-Brillen könne man in nie gesehene
Parallelwelten eintauchen. Ich kann das sehr gut verstehen, dass man
neue, aufregende Parallelwelten braucht, wenn die reale Welt so grau und
langweilig geworden ist! Und ich sehe auch Übereinstimmungen bei der
alten und der jungen Generation. Der Mensch braucht mehr als körperliche
Versorgung, Beschäftigung und Zuwendung, nämlich Abwechslung und
Anregung, um nicht in lähmende Gewöhnung zu verfallen. Ich selbst lebe
ja seit langen Jahren in der Parallelwelt des Schreibens und des
virtuellen Austauschs. Und bekanntlich versuche ich auch seit langen
Jahren, immer wieder daraus hervorzubrechen und die bald verlorenen
letzten Paradiese zu finden. Auch in einer übervölkerten autobesessenen
Nation musste es doch möglich sein, ein paar Orte zu entdecken, an denen
die berühmte Seele noch ein wenig baumeln kann. Und wo man etwas
anderes erlebt als an den übrigen 360 Tagen des Jahres. Es war der
gefühlte zehnte Versuch. Tasche gepackt, raus aus dem Haus auf die
Autobahn. Ziel: Die unbekannte Saale, mit ihrer anderen Landschaft,
fremden Städten, Burgen und Menschen. Innerhalb dreier Stunden
erreichten wir Meiningen in Thüringen. Dorther stammt der Urvater meiner
Familie, ein Gastwirt zum Wilden Mann namens Luz, verbürgt für das Jahr
1521. Er dürfte den Bauernkrieg noch erlebt, wenn nicht überlebt haben.
Beim ersten Besuch dieser Stadt (vor acht Jahren) gelangten wir auf
einen weiten Platz mit einer Kirche und einem Rathaus. Außer ein paar
angetrunkenen Jugendlichen befand sich
niemand dort, zu essen
bekamen wir irgendetwas Grauenhaftes von einem Chinesen. Aber es lag ein
etwas angestaubter Zauber über diesem Ort. Diesmal kamen wir gar nicht
erst hinein, alles voller Baustellen und umherirrender Autos.
Schnell
weiter nach Schmalkalden, bekannt wegen des Schmalkaldischen Krieges.
Auch dieser Ort war uns vertraut. Damals ein altes Schloss mit
Schlossführer und Geschichten über Iwein, stille, zu stille malerische
Gassen, ein Café, ein, zwei Restaurants. Dazu viel über Luther und
Geschichte. Diesmal quoll der Ort über vor Tausenden von Touristen. Wie
das, an so einem "langweiligen" Platz? Der Grund wurde schnell
ersichtlich: Viele neue Hotels und Gaststätten in alten Gemäuern,
Eisdielen noch und noch, Andenkenläden, eine Touristenbahn, Schmuck- und
Kleidergeschäfte. Das machte einen überaus heiteren und neuartigen
Eindruck, dazu noch das bombige Wetter bei 21-23°. Wir quartierten uns
im Hotel "Patrizier" aus dem 16. Jahrhundert ein, in einer nicht gerade
billigen, aber herzoglich eingerichteten Suite mit Alkoven und
imitierten Louis - IV-Stühlen. Beim Abendessen auf dem Marktplatz war
der ganze Spuk schon verschwunden, ein kalter Wind kam auf und gegen
22.00 wurden sämtliche Bürgersteige hochgeklappt. Wir tranken Bier in
der Suite, hingen aus dem Fenster und lauschten gebannt dem Nachtleben
dieser wunderbaren Stadt. Gegenüber hinter einem Fenster saß ein Mensch
in einem Flur und schaute anscheinend auf einen Fernseher, der aber
nicht zu sehen, redete mit einem Menschen, der nicht zu hören war und
verschwand manchmal durch eine Tür. Irgendwann sah man gelbliche Knochen
auf dem Boden liegen, aber in Wirklichkeit war das ein schlafender
Hund, der nicht mal mit den Pfoten zuckte. Im Zimmer schrie ein Kind,
ein anderer Mann wurde sichtbar. Unten auf der Straße näherte sich eine
Frau, richtete eine Taschenlampe auf einen Zettel des Nachbarhauses,
schrieb etwas auf, leuchtete wieder mit der Taschenlampe, schrieb wieder
etwas auf. Dann schaute sie sich vorsichtig um und stöckelte weiter.
Eine Fledermaus flog fast in unser Fenster hinein. Mit das Beste am
Reisen ist übrigens immer das Hotelfrühstück, die Beeren, Früchte,
Yogurts, Brötchen, Säfte, Brotsorten, der Speck und die Rühreier, die
Frikadellen, die Wurst und der Käse treiben überall die Zimmerpreise in
die Höhe.
Nun waren wir ernsthaft gewillt, die Saale
mit ihrem hellen Strande, ihren Burgen, Städten und fremden Menschen zu
erreichen. Fuhren endlose Umwege, da überall gesperrt und nicht richtig
umgeleitet wurde. Ob die anderen das mit ihren Navis schafften?
Offensichtlich nicht, denn es waren genügend gestresste und wütende
Gesichter zu sehen. Allerdings wird in Thüringen nicht genötigt beim
Autofahren, und auch sonst sind die Menschen sehr zuvorkommend und
herzlich. Um es gleich vorwegzunehmen: Wir erreichten die hellen Strände
der Saale niemals! Der Thüringer Wald wirkt auf uns verwöhnte Älbler
und Schwarzwälder wie ein Holzanbaugebiet. Alternativ landeten wir beim
Erfurter Dom, einem gewaltigen Meisterwerk mit gotischer Kathedrale
gleich daneben. In Erfurt hatten wir schon zauberhafte Stunden verlebt.
Jetzt war es rappelvoll, der Domberg war mit Theatergerüsten, blauen
Kunstoffhütten und Kinderrutschen verstellt. Also die Kirchen
besichtigt, einen Cappuccino genommen und hurtig die Flucht ergriffen.
Weiter ging es zügig nach Süden, alle Schilder über der Saale helle
Strände ignoriert, da die Landschaft des Erfurter Beckens flach, grau
und staubig wirkte. Einzig der Städte wie Weimar, der Bachstadt Arnheim,
Eisenach und einiger anderer wegen lohnt sich ein Besuch dieser Gegend.
Und freie Unterkünfte gibt es auch in der Hauptreisezeit; das beste und
beliebteste Essen ist die Thüringer Bratwurst.
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Erfurter Dom |
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Bamberg |
Eine relativ freie Autobahn brachte uns in immer
grünere Gefilde. Fichtelgebirge, Frankenwald, Bayreuth, Kulmbach, ein
Abstecher ins feierabendliche, pulsierende, Bamberg, das wie ein
begehbares Mittelalter wirkt.
Der Verkehr und die
Umleitungen schleuderten uns von einem unbekannten Ort zum anderen.
Völlig entkräftet hielten wir im bezaubend-verschlafenen Kurstädtchen
Bad Windsheim an, um eine Unterkunft zu suchen. Wieder war es ein
herrschaftliches Haus namens "Reichstatt", sehr liebevoll und elegant
mit einem Spaliergärtchen und Balkons ausgestattet. In dieser Stadt wurden
allerdings schon um 21.30 die Stühle hochgeklappt, und wer wie wir dann
noch nicht schlafen gehen will, der muss sich
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Bad Windsheim |
mit einer Bar begnügen, in der die Dartpfeile flogen
und kichernde Mädchen vor der Tür rumhingen, bis der Besitzer kam und
zur Ruhe mahnte, was auch sogleich befolgt wurde. Auch in diesem Hotel
das traumhafte Frühstück, bereichert durch diverse Salate. Ein Rundgang
am sonnigen Morgen bestätigte den Einduck: ein wunderschönes fränkisches
Städtchen mit unverdorbenem Lebensstil und netten Menschen. Wer Ruhe
sucht, wird sie dort ganz gewiss finden!
Die letzte
Etappe führte durch das Taubertal, nun wieder allmählich der Heimat zu.
Flache, bewaldete Bergrücken, Weinterassen, Steinriegel, dann wieder
kleine Seen, uralte Gemäuer und Brückenheilige, Schmetterlinge,
Blumenwiesen und Ruhe. Allerdings geht die Ruhe so weit, dass die
Gasthäuser ihre Köche schon um 13.00 nach Hause schicken, weil eh kaum
noch jemand kommt. Das Paradies wird durch Entzug der Lebensgrundlagen,
nämlich des Tourismus, erkauft. Und es ist ein wahres Paradies!
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Röttingen |
In Röttingen, von einer alten Stadtmauer umschlossen,
gibt es Tore und Winkel, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein
scheint. Und alles überschattet von dem großen, uns sehr bekannten
Rothenburg, das von Bussen und Touristen aus aller Welt tagtäglich zu
Tausenden gestürmt wird. Man muss nur ein paar Schritte hinuntergehen
und steht in einem Tal mit einem Himmel, der weiter und höher wirkt als
der unsrige. Nicht umsonst hat der Dichter Eduard Mörike Bad Mergentheim
zum Wohnsitz erwählt, denn im Tauberta sei das Klima günstiger. Hier
regne es viel weniger als anderswo, erklärte uns heiter ein Mann, deshab
gedeihe auch der Win so gut. Dort sollte man ein Häuschen haben, im
Garten sitzen, nachdenken, schreiben, basteln, kochen, radfahren, mit
dem Nachbarn schwätzen und ab und zu in die große laute Welt eintauchen,
die reale und die virtuelle. Und sich dazwischen hin - und herbewegen
wie ein Aal im glasklaren Bach. Oder wie ein Vogel, der ohen Rücksicht
auf heimatliche Bande immer wieder nach Süden fliegt.
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Rothenburg o.d. Tauber |