Sonntag, 29. Mai 2016

Von der Wiederentdeckung des "Eigen-Sinns"

Winkel in Aach beim Aachtopf
Oder auch: den Faden wiederfinden, der einen durch das bisherige Leben begleitet hat. Selbst ein so profanes Ding wie ein Blog kann sich zu einer Art roten Fadens entwickeln und dazu beitragen, das Geknäule des Daseins zu entwirren. Ein Blog kann etwas sein wie ein virtueller Ort, der durch Kommunikation und Vernetzung mit anderen eine Gemeinschaft bildet. Wie im wirklichen Leben eben auch. Nicht immer und nicht ohne eigenes Zutun natürlich. Heute Vormittag, an diesem gewittrigen, schwülwarmen Maiende des Jahres 2016, hatte ich dieses Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Dazu brauchte ich nur die Einträge meiner BlognachbarInnen zu lesen. Und jeder Eintrag spiegelte etwas von meiner eigenen Situation wider. Der Reihe nach: Es begann mit Elli Radingers Schilderung der Bücher, die auf Reisen geschickt werden. So gekonnt machen wir das hier nicht, aber wir haben unsere Büchertauschplätze in den Städten und Dörfern um uns herum. Seien es Schränke mit Glasscheiben oder "Bücherbäume", in denen die zu tauschenden Bücher gut übersichtlich stehen. Oder die Tische und Vitrinen in Supermärkten, wo die Bücher meist hastig abgelegt, gesucht und dabei durcheinandergeworfen werden, so dass man sie mühsam wieder ordnen muss. Die Idee der Tauschbörse, die Elli beschreibt, macht das Ganze nochmal systematischer. Diese Stätten sind auch Orte der Begegnungen, wir haben schon manchen bibliophilen Menschen auf diese Weise kennengelernt.

Dann las ich in Annette Webers Blog über den Druck, den äußere Umstände auf uns ausüben, uns in Panik versetzen können und uns daran hindern, das zu tun, was wir eigentlich am liebsten tun würden. Das mit dem Rasenmähen kenne ich beispielsweise zur Genüge. Gerade hat man erst gemäht, schon bringen die schwülfeuchten Tage die Gräser dazu, wieder in die Höhe zu schießen. Ringsumher hört man das Gesumm der Elektrorasenmäher, und ausgerechnet mein Rasen steht als einziges Schandbild in dieser wohlanständigen Siedlung! Eigentlich habe ich keine Lust, schon wieder mit dem Kabel herumzutanzen und dabei zu merken, wie mir der Schweiß aus allen Poren bricht. Es gibt ja genügend anderes zu tun, zu gießen, zu jäten, einzukaufen, zu putzen, spazierenzugehen, Blogeinträge und anderes zu lesen und zu verfassen. Ein Bericht für die Zeitung über den Trauma-Vortrag musste redigiert und abgesendet werden (dafür kam er gestern auch in professioneller Aufmachung). Die äußeren Umstände, die Forderungen, die unsere Umgebung an uns stellt, hindern uns daran, uns dem Eigentlichen zu widmen - wenn wir wissen, woraus es eigentlich besteht!

Die nächsten beiden Einträge kamen von Sabine Schäfers, die sehr eindrücklich über die Rollenklischees nachdenkt, die von Verlagen an Autoren herangetragen werden. Und von Petra van Cronenburg mit einem hervorragenden Artikel über kreative Prozesse und alle damit verbundenen Überlegungen und Umstände wie dem Scheitern und dem Neuanfang. Den Ausführungen, die mich direkt angesprochen haben, kann ich nichts Weitergehendes hinzufügen. Aber sie und alle anderen brachten mich dazu, jetzt gleich ebenfalls einen Beitrag schreiben zu wollen, mit dem ich mich bei meinen BlognachbarInnen bedanken will. Auch bei Alice Gabathuler, deren Blog ich seit Jahren verfolge. Sie hat zusammen mit anderen einen Verlag gegründet, was ich mit allergrößtem Respekt vermerke.

Während meiner langjährigen Arbeit mit psychisch labilen, vulnerablen, das heißt besonders verletzbaren Menschen habe ich manchmal einen Klienten oder eine Klientin gefragt, was sie denn früher, in ihrer Jugend, besonders gern gemacht hätten. Und bei manchen von ihnen scheint das auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein, oder sie haben selbst in sich Ressourcen entdeckt, die sie ausleben und damit ihre Krankheit positiv beeinflussen konnten. Viele von ihnen malen, eine hat sogar im Landtag an einer Ausstellung teilgenommen und wurde ins Fernsehen eingeladen. Andere züchten Blumen, tischlern oder kochen göttliche Gerichte wie Kürbissuppen, tschechische Linsengerichte oder polnische Fleisch-und Kohlrouladen. Ein Mann, der kurz bei uns zu Gast war, hat einen köstlichen Eintopf nur aus Rinderknochen, Meersalz und Gemüse hergetellt, besser als mit jeder Fertigbrühe. Und das hatte er sich bei seiner Freundin abgeguckt. Man muss nur die inneren und äußeren Stimmen und Sätze wie "Das schaffe ich nie" oder "Was bringt das denn überhaupt?" abschütteln und einfach das machen, was einem in den Sinn kommt. Ohne zu überlegen, was dabei herauskommen, für wen man es tun und von wem es beachtet werden könnte. Eine Geschäftsidee daraus zu entwickeln - wie mit dem Schreiben oder anderen kreativen Tätigkeiten - erfordert dann noch einmal ganz andere Schritte. Wenn man mich übrigens fragen würde, was ich selbst gern in meiner Jugend gemacht habe: Es waren das Schreiben, das Fotografieren, Lesen, Malen, Wandern, Kochen, Reisen, nächtelange Gespäche mit Freunden, Abtanzen in Kneipen und -Träumen.

"Weißes Waldvögelein", Orchidee der schwäbischen Alb, 26.5.16
In dem Geschehen der letzten Tage ist mir via Fernsehen der Rock- und Balladensänger Udo Lindenberg begegnet, der letztens seinen siebzigsten Geburtstag feierte und gerade eine bundesweite Tournee abzieht. Er wird frenetisch bejubelt, spricht in Interviews über die Entwicklung seines "Eigensinns" und schaut einem mit Hut und Zigarre in jeder Musikabteilung der Geschäfte entgegen. Man mag halten von ihm, was man will, aber er hat es geschafft, er selbst zu bleiben. Auch wenn jemand sagt, wir bräuchten keine alten, nuschelnden Männer mehr auf der Bühne. Ich besitze keine Platte und keine CD von ihm, aber viele Lieder klingen mir noch sehr lebendig in den Ohren. Rudi Ratlos, Hinterm Horizont gehts weiter und so weiter. 50 Songs in 30 Jahren .Lindenberg hat mit 15 Jahren beschlossen, Rockmusiker zu werden. Und er hat es geschafft, so, wie sein Vorbild Hermann Hesse mit 13 Jahren ankündigte, Schriftsteller zu werden und sonst gar nichts. Mit Anfang dreißig meinte Udo, es wäre doch wünschenswert, im Alter noch auf der Bühne zu stehen und nicht den Hut abzugeben wie beispielsweise die Fußballer. Dem teilweise geschmähten Hesse hat er in dessen Heimatstadt Calw ein jährliches musikalisches Rock-Denkmal gesetzt. Calw rockt. Lindenberg versuchte sich zwischendurch mit bürgerlichem Leben und Häuschen, ist grandios gescheitert, stürzte ab in Alkoholexzesse. Als vor zehn Jahren sein Bruder, der Maler Erich Lindenberg starb, riss ihn das aus seinem verzweifelten Sumpf. Er stand einfach noch einmal auf und fasste sein Lebenswerk auf der Bühne zusammen. Jeder Auftritt könnte der letzte sein. Und hier schließt sich der Kreis der Themen: Selbstbestimmtheit, Kreativität, Trauma, Verletzbarkeit, Irrwege und Neuanfang.