Samstag, 22. Oktober 2016

Einfach leben! Ein Potpourri des Herbstes

In den langen Tagen und Nächten, die ich ungewohnterweise krank zuhause verbringen musste, dachte ich manchmal an die Matratzengruft von Heinrich Heine. Was wäre, wenn man gar nicht mehr auf die Beine kommt? So was Dummes, schalt ich mich, du bist in deinem Leben immer wieder auf die Beine gekommen. Und überhaupt, so ein Selbstmitleid. Ich ging durch die Welt wie von Schleiern umgeben. Merkte, dass sie sich allmählich von Tag zu Tag mehr hoben, und dass dahinter eine ganz neue Welt zum Vorschein kam. Bekannt und vertraut und doch vollkommen neu. Jetzt ist wieder die Zeit der langen Nächte angebrochen, die Tage bis zum nächsten Frühling sind unendlich lang und kaum zu zählen. You have had it, brother, alle Wärme, alles Schöne, alles Blühende, alle Städte und Landschaften, alle Genüsse und Begegnungen hast du wieder enmal gehabt. Es gibt doch noch etwas anderes als das Streben nach irgendetwas? Da mitten hinein kam die Nachricht vom Reichsbürger, der einen Polizisten getötet hatte, nachdem der mit seinen Kameraden ihm seine Waffensammung abnehmen wollte. Die Reichsbürgerbewegung war bisher ein völlig unbekanntes Phänomen. War die deutsche Justiz mal wieder auf dem rechten Auge blind? Diese Gewalttat eines Waffenbürgers der Nazizeit hat mir die Augen geöffnet über das, worüber ich gerade schreibe: Der Sumpf ist nicht trockenzulegen, war es damals nicht und ist es heute nicht. In Belgrano im Gran Chaco/Argentinien feiern sie heute noch das Oktoberfest, auf übertrieben deutsche und altmodische Art. Dort sollen die Überlebenden der Graf Spee sich nach 1939 angesiedelt haben.Wie die Nazis Argentinien anzapften. Das hat meine Arbeit ein Stück weitergebracht.

Aber nun zum Leben an sich. Wir sind seit jeher Landpomeranzen gewesen, haben immer gestaunt über die glitzernden Welten der großen Städte, ihre Aufgeschlossenheit, ihre trotz allem dichtere Präsenz in vielen Dingen. Warum nicht mal wieder nach Pforzheim fahren, in die Stadt, die im letzten Krieg bis auf die Grundmauern niedergebombt und so hässlich wieder aufgebaut wurde? Vom Geheimparkplatz, auf dem sich immer ein freies Plätzchen findet, sind es ein paar hundert Meter in die Innenstadt. Mein Partner, der sich oft als Grantler und Misanthrop entpuppt, kann genauso schnell zum humorvollen Straßenhüpfer werden. Und ich weiß, wie ich sein Musikerherz begeistern kann: Per Google hatte ich den Standort eines Musikladens herausgefunden, der versteckt in der Barfüßergasse gegenüber der Galeria Kaufhof liegt. Nachdem ich ihn dort geparkt hatte, konnte ich meine Streifzüge durch die Klamottenläden und die Buchhandlung Thalia machen. Gekauft habe ich allerdings nur ein Buch. Wieder vereint, ließen wir uns einfach nur treiben, mal hier in einen Glaspalast zum Kaffeetrinken, Scherzchenmachen mit dem Barkeeper, Lauschen auf die Sprache der alten Spanier, gegenüber Banken, Apotheken, eine Gemüsehandlung, ein Brezelladen und eine Handyanlaufstelle. Dann Hotdogs in einem weiteren Palast, ein Hin und her und Ein und Aus. Spaziergang an den dunklen Wassern der Enz, noch tiefgrüne Weiden lassen ihre Zweige in den Fluss hängen. Wanderungen in der Großstadt. So einfach ist das. Oder haben wir irgendwo den Ruf der Zugvögel gehört?


Turgenjew, [Turgenjev] Iwan S. (1818-1883)

Ich lieb den Herbst

Ich lieb den Herbst, im Blicke Trauer.
In stillen Nebeltagen geh
Ich oft durch Fichtenwald und seh
Vor einem Himmel, bleich wie Schnee,
Durch Wipfel wehen dunkle Schauer.

Ich lieb, ein herbes Blatt zu Brei
Zu kauen, lächelnd zu zerstören
Den Traum, dem wir so gern gehören.
Fern des Spechtes scharfer Schrei!
Das Gras schon welk...schon starr vor Kühle,
Von hellen Schleiern überhaucht.
In mir das Weben der Gefühle,
Das Herz in Bitternis getaucht...

Soll ich Vergangenes nicht beschwören?
Soll, was da war, nie wieder sein?
Die Fichten nicken dunkel, hören
Gelassen zu und flüstern Nein.
Und da: ein ungeheures Lärmen,
Ein Ineinanderwehn von Zweigen,
Ein Rauschen wie von Vogelschwärmen,
Die, einem Ruf gehorchend, steigen.


Samstag, 8. Oktober 2016

Im Oktober

Der Oktober war in diesem Jahr ein Einschnitt. Nicht nur, was den Abschied vom Sommer und den Hinauswurf ins Kalte, Trübe betrifft. Am letzten Wochenende besuchte ich das Autorentreffen in Oberursel und war so angetan und inspiriert wie lange nicht mehr. Aber es war nicht nur ein Kokon, der alle eingehüllt hätte, sondern öffnete auch manches Auge für die Situation der Autoren in dieser Zeit. In Frankfurt Hauptbahnhof kehrte die Realität mit aller Macht zurück: Die Live-Festnahme zweier Männer in einem Zug mitsamt Koffer, ein Terroralarm mit schwerbewaffneten Polizisten. Und die Kälte wurde immer unerbittlicher. Jetzt liege ich seit Tagen mit einer schweren Erkältung darnieder, umgeben von Tees, Unmengen von Papiertaschentüchern, Büchern und Kreuzworträtseln. Auf der Suche nach Oktobergedichten habe ich eins von Erich Kästner gefunden, den ich bisher mehr mit "Emil und die Detektive", "Pünktchen und Anton" usw. identifiziert habe. Spricht für diese Stimmung und gefällt mir sehr gut!


Der Oktober 

Fröstelnd geht die Zeit spazieren.
Was vorüber schien, beginnt.
Chrysanthemen blühn und frieren.
Fröstelnd geht die Zeit spazieren.
Und du folgst ihr wie ein Kind.

Geh nur weiter, bleib nicht stehen.
Kehr nicht um, als sei's zuviel.
Bis ans Ende musst du gehen,
hadre nicht in den Alleen.
Ist der Weg denn schuld am Ziel?

Geh nicht wie mit fremden Füßen
und als hättst du dich verirrt.
Willst du nicht die Rosen grüßen?
Lass den Herbst nicht dafür büßen,
dass es Winter werden wird.

Auf den Wegen, in den Wiesen
leuchten, wie auf grünen Fliesen,
Bäume bunt und blumenschön.
Sind's Buketts für sanfte Riesen?
Geh nur weiter, bleib nicht stehn.

Blätter tanzen sterbensheiter
ihre letzten Menuetts.
Folge folgsam dem Begleiter.
Bleib nicht stehen. Geh nur weiter,
denn das Jahr ist dein Gesetz.

Nebel zaubern in der Lichtung
eine Welt des Ungefährs.
Raum wird Traum. Und Rausch wird Dichtung.
Folg der Zeit. Sie weiß die Richtung.
"Stirb und werde!" nannte Er's.

Erich Kästner, 1899-1974