Samstag, 9. September 2017

Ein Tag der Abenteuer

Kann man heute eigentlich noch Abenteuer erleben?. Ich meine so richtig mit Spannung, Gefahr und neuen Erlebnissen, mit allen Sinnen? Man kann sich 3D-Brillen oder noch Neueres aufsetzen und sich in spannende 3D-Erlebnisse versetzen lassen, sogar mit Schief-und Rüttellage. Oder man geht in den Supermarkt und guckt auf seinem Smartphone nach, was im Kühlschrank fehlt. Bald wird man durch die Scheibe seines Autos die Stadt, durch die man fährt, wie vor 500 Jahren sehen. Abenteuer (-Urlaub) kann man buchen, Gespenst und Mörder beim Krimi-Dinner inklusive. Jede Sonnenfinsternis, jeder sich verdunkelnde Mond, jedes außergewöhnliche Naturereignis wird zum Abenteuer-Event verklärt. Ich selbst gehöre zur Generation derer, die mit Abenteuern und Abenteuerbüchern aufgewachsen sind. Da gab es den Berg, die Insel, das Tal, die See, das Schiff, die Burg, den Zirkus und den Fluss der Abenteuer. Abenteuer waren möglich, indem man per Anhalter und mit Zelt durch Deutschland, Europa und die Welt gezogen ist. Natürlich gibt es heute noch die geistigen und ideellen Abenteuer, beim Ausüben einer künstlerischen Tätigkeit etwa, beim Erforschen und Recherchieren für die Bücher. Für mich ist das Wichtigste das Erleben einer Sache, einer Begebenheit, nicht das Konsumieren einer noch so gut gemeinten vorgefertigten Angelegenheit.
 
Manchmal beneide ich die Archäologen und Historiker. Sie graben vergangene Welten aus, gewinnen großartige Erkenntnisse über vergangene Zeiten und sind somit eigentlich Schatzgräber, Abenteurer der Moderne. Für das Ausgraben hätte ich natürlich keine Geduld, wohl aber dafür, mir die Ergebnisse anzuschauen. Wir kennen die Höhlen der schwäbischen Alb mit ihren sensationellen Funden, wir haben das Keltenmuseum mit der Grabstätte des Fürsten von Hochdorf erlebt, die Heuneburg und den Runden Berg bei Bad Urach. Nach Auschecken aller Museen in Baden-Württemberg entdeckte ich das Franziskanermuseum in Villingen, das ebenfalls eine keltische Ausgrabung enthält. Gestern entschlossen wir uns, einfach mal wieder dorthin zu fahren, um etwas außerhalb des üblichen Dunstkreises zu erleben. Wie durch ein Wunder sausten wir unbehelligt die Autobahn nach Singen hinunter, und wie durch ein Wunder umfuhren wir haarscharf einen Stau in Villingen und landeten stante pe auf unserem bekannten Parkplatz vor einem der vier Stadttürme. Mein Begleiter wollte sich in einem alternativen Musikladen umschauen, etwa hundert Meter entfernt steht das Franziskanermuseum. Der Eintritt ist frei, außer zu den Sonderausstellungen. Ich war die einzige Besucherin zu der Zeit. Erst einmal geriet ich in einen alten Kreuzgang des Klosters und in den Kapitelsaal mit sakralen Gegenständen und Geigen aus dem Schwarzwald.




Dabei öffnete ich eine geheimnisvolle Glastür, die zum Refektorium führen sollte. Fast völlige Dunkelheit umfing mich, ich konnte nur verschiedene Säcke auf dem Boden ausmachen. Irgendwie fühlte ich mich beobachtet. Und dann, oh Schreck, da stand jemand an der Wand!


Diese Fasnetsfigur hatten sie sicher zu diesem Zweck dahingestellt, nämlich um Leute wie mich zu erschrecken. Das Refektorium hatte eine sehr schöne Stuckdecke, alles war aber noch im Aufbau. Über eine Rampe mit skurrilen Arbeitsgeräten ging es dann zum Keltenpfad. Ende des 19. Jahrhunderts wurde auf dem Magdalenenberg bei Villingen ein Fürstengrab ausgehoben, dessen Holzverschlag original zu besichtigen ist. Dazu viele Requisiten, Knochen, Gebrauchswerkzeuge, Waffen und Schmuckstücke. Der Magdalenenberg war auch einer der berüchtigten Hexentanzplätze. So soll im Jahr 1633 (die Zeit, in der ich gerade für meinen Roman recherchiere) eine junge Frau unter Folter gestanden haben, beim Keltengrab mit dem Teufel getanzt zu haben. Sie wurde als Hexe verbrannt.

In der Färbergasse vor dem Musikgeschäft trafen wir uns wieder. Mein Begleiter hatte inzwischen eine Seitenstraße erkundet und dabei nicht nur unzählige Geschäfte, Bars, Bistros und Restaurants entdeckt, sondern auch eine Tapas-Kneipe, in der wir uns draußen unter inzwischen blauestem Himmel Tapas servieren ließen, ganz kreativ zubereitet: Eine Schale mit Feigen, Serrano-Schinken, Cocktailtomaten, Rucola und gehobeltem Parmesankäse, eine andere mit großen und kleinen Muscheln, eine dritte mit Thunfischsalat. Dazu eine kühle Johannisbeerschorle. Warum sollten wir eigentlich noch nach Spanien fahren oder an einen dieser Touristenorte, in dem sie sich drängelnd aneinander vorbeischieben? Warum noch auf eines dieser kommerzialisierten Stadtfeste gehen, wo man nur noch rote Wurts mit harter Haut und gummiartigen Schaschlik bekommt? Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ging ein junger Mann vorüber. Ich dachte, er rede mit sich selbst oder mit seinem Handy. Nein, er schrie einem Passanten nach: "Ich hol gleich mein Messer und stech dich ab, dann hänge ich dich dort oben auf! Ich bring dich um!" Der Passant machte, dass er weiterkam. Der seltsame Typ schaute auch zu uns herüber und verschwand dann in einer Seitengasse. Beunruhigt holten wir den Wirt und einen Gast, aber der Kerl war schon verschwunden. Das habe sicher etwas mit Drogen zu tun, meinte der Wirt. Wir ließen es uns nicht verdrießen und gingen kurze Zeit später dieselbe Gasse hinunter. Angela Merkel grinste uns schon von einem Plakat entgegen. Aber dann gab es wieder Bücher und ein Bücher-Telefonhäuschen und eine uralte Frau in buntem Gewand, die uns bat, sie einige Schritte bis zum nächsten Geschäft an die Hand zu nehmen. Dort würde sie abgeholt. Sie war federleicht. Ach, wie bin ich früher in den Alpen herumgeklettert, meinte sie seufzend. Und letztes Jahr konnte ich auch noch gut laufen, aber jetzt, mit neunzig ...
Villingen ist eine der lebendigsten Städte des Südwestens und immer eine Reise wert, allein die vielen Brunnen mit den Fasnetsfiguren tragen zu dem unnachahmlichen Flair bei.