Donnerstag, 24. August 2017

Neue Lust auf Leben

Die Ereignisse der letzten Zeit könnten dazu führen, dass ich mich wie gelähmt fühle und nicht mehr weiß, wohin die Welt eigentlich steuern wird. Es waren nicht nur die Anschläge von Barcelona und andere niederschmetternde Nachrichten wie Verhaftungen von Journalisten, sondern auch ein Unfall, der sich hier bei uns ereignete und uns tagelang beschäftigte. Ein Müllwagen war ungebremst von einem Industriegebiet abgebogen (wahrscheinlich ein technischer Defekt), war umgefallen und hatte eine ganze Familie unter sich begraben. Zweitausend Trauergäste haben am vergangenen Samstag Abschied von diesen jungen Menschen genommen. Dazu kam ein Mord an einem türkischen Mitbürger, der in der Straße meines Lebensgefährten wohnte. Die Hintergründe dieser Tat wurden öffentlich nie aufgeklärt. Ausströmende Gasflaschen in Calw und in Belgien, leider auch strafrechtliche Übergriffe von Flüchtlingen in unserer Stadt, Übergriffe auf Menschen mit arabischen Wurzeln in Spanien. Einziger Lichtblick der Zeit war die Großdemonstration der Barceloner Bürger mit der Botschaft: Wir lassen uns nicht einschüchtern, wir wollen das Leben, das wir uns ausgesucht haben, weiterführen!

Wie soll man unbeschwert weiterleben, wenn die Welt, die wir kannten und liebten, sich so sehr verändert hat? Man kann die Augen nicht vor diesen Prozessen verschließen. Doch ist - wie immer - Angst ein schlechter Ratgeber. Wir haben vorgestern ein Bilanzgespräch geführt. Was ist persönlich für uns anders geworden, warum waren wir früher so neugierig auf alles, was hinter der nächsten Ecke stecken könnte? Es war nicht allein mein Schreiben, was vieles in den Hintergrund gedrängt hat. Was hat sich beim Reisen verändert, das uns früher nach Frankreich, Spanien, Italien und in fast alle deutschen Regionen führte? War es der Raubüberfall auf dem Campingplatz der spanischen Mittelmeerküste, als nachts unser Zelt direkt neben uns aufgeschlitzt wurde? Dass wir seitdem nie mehr gezeltet haben? Ist es der Klimawandel, der uns immer mehr Extremwetter bringt? Das alles reicht nicht aus. Wir haben das, was uns früher angetrieben hat, zum Teil verloren. Was war es denn, was wir früher anders gemacht haben? (Diese Fage stellte ich auch immer gern meinen Klienten, und manche haben es auch geschafft, vergrabene Talente und Gefühle wieder auszugraben). Wir haben Städte besucht, sind gewandert und gefahren, haben Pilze gesammelt, fotografiert und sind zu Musikveranstaltungen gegangen. Haben uns politisch und sozial engagiert. Das alles hat seinen Glanz verloren, auch wenn es in Ansätzen noch vorhanden ist.

Während einer Wanderung vor einer Woche auf dem Klippeneck begegneten uns zwei Pilzsammler, die Hände voller Habichtspilze und goldgelber Korallen. Einen vermeintlichen Champignon identifizierte ich als kleinen Flaschenbovist. Das sind nun nicht gerade die Sorten, die wir gerne sammeln und essen. Der Habichtspilz ist leicht bitter, die Koralle kann man mit der Bauchwehkoralle verwechseln. Die Sammlerin wollte die Habichtspilze trocknen und in ihre Soßen geben. Trotzdem war das eine Initialzündung. Ich schlug meinem Partner vor, am nächsten Tag in den Überberger Wald zu gehen und zu schauen, was sich da an Pilzleben tut. Und es war ein voller Griff in dieses Leben. Hunderte von Täublingen, viele Blutreizker, drei kleine Steinpilze und der Hammer: Eine Krause Glucke! Die kenne ich noch von meinem Vater her, und es ist einer der besten Speisepilze, die ich je verzehrt habe! Die habe ich in Röschen zerteilt, die Erde rausgewaschen und zusammen mit den Steinpilzen, etwas italienischem Rohschinken, Zwiebeln und Sahne geschmort und mir auf der Zunge zergehen lassen. Gestern waren wir wieder in der näheren Umgebung unterwegs. Wenn man nur die Augen aufmacht und die großen Straßen verlässt, kann man Dinge in Gegenden endecken, die man bis zum Überdruss zu kennen meint. Es war die Dießener Burgruine im Dießener Tal (bei Horb). Sehr schön restauriert, auch für Freilichtspiele, umgeben von mächtigen Esskastanien. Unten eine Handvoll Häuser mit überbordenen Blumenrabatten und Fleischtomaten, darunter das "Horber Haus der Geburt" einer Hebamme, ein Schild neben der Tür, das zum Leben außerhalb der eingefahrenen Gleise auffordert. Bei einer anschließenden Wanderung stellten wir fest, dass die Natur das einzige ist, was sich nicht ändert und was nichts braucht außer Licht, Luft, Wärme, Wasser und Nahrung.