Samstag, 3. Dezember 2016

Ein Wohlfühlhaus am Heiligen Abend-voll hygge!

Die dänische Küste bei Wassersleben
Ein strahlend schöner Wintertag ist heute Morgen aufgezogen, Elstern und Rabenkrähen machen sich im Garten zu schaffen. Schräg gegenüber zittert -schon lange - das rotweiße Absperrband in der Brise. Dieses Band erinnert an die Taten, die da draußen immer häufiger und mit immer größerer Heftigkeit geschehen. Die Zeitung bringt es noch einmal an den Tag: In Hechingen erschießt jemand aus einem fahrenden Auto heraus einen jungen Mann, der nicht einmal gemeint zu sein scheint, wie in einem alten Mafia-Film, in Nagold ertrinkt ein 18jähriger einfach so, nach Besuch eines Lichterfestes, in Freiburg und Endingen wird jetzt größere Polizeipräsenz gezeigt, nachdem jahrzehntelang kein Geld dafür da war. In der großen Welt zimmert man ein Cowboy - und Hardlynerkabinett zusammen, und die Europäische Union scheint allmählich zusammenzubrechen, wie auch die Tunnels von Stuttgart 21. Staatliche und individuelle Gewalt nehmen zu, auch wenn das anscheinend schon immer so war. Was tun die Einzelnen in einer solchen Welt, in der Sicherheit und Wohlstand für viele in immer weitere Ferne rücken? Meine Zeitung hat eine Antwort darauf gefunden: Die Menschen machen es sich "hygge". Die Dänen seien schon lange die glücklichste Nation der Welt, weil sie diese "Hygge=Wohlfühlmentalität" praktizieren. Näher betrachtet bedeutet das aber nichts weiter als Privatisierung. Man sitzt in seinem Wohlfühlhaus am Fenster, mit grauen Kuschelsocken an den Füßen, überblickt das Ikea-designte Interieur, hält eine Tasse Tee in der Hand und plaudert mit seinen Nächsten und Liebsten. Aber bitte hinter geschlossener Tür, von dem Bösen da draußen wollen wir nichts hereinlassen. Beim Anblick des Schönen werde das Hormon Seratonin ausgelöst, haben Wissenschaftler herausgefunden. So lese ich auch das Schild schräg gegenüber: Hier entsteht ein Wohlfühlhaus, für eine junge Familie, großes Grundstück zur Abgrenzung, und wahrscheinlich ist der Baubeginn am Heligen Abend wie schon einmal vor fünfzehn Jahren gleich nebenan. Und schon beginnt ein Motor zu brummen und zu rattern!

Eigentlich kann ich das ganz gut nachvollziehen. Seit ein paar Wochen habe ich, mausarmbedingt, viel Zeit zu Hause verbracht. Und bin dabei -gezwungenermaßen -vollkommen zu Ruhe gekommen. Habe mich eingerichtet zwischen Wolldecken, Kerzen und aufgeräumter, sauberer Wohnung. Ein gutes Buch, schöne Farben und Schleichwege zu Geheimplätzen. Selbst die 260 Normseiten meines neuen Romans konnte ich in aller Ruhe überarbeiten. Sollen sie doch verzweifeln in ihren weihnachtlichen Autokolonnen! Was brauchten denn unsere Vorfahren, die Neandertaler und Homo sapiens sapiens? Eine Höhle, ein Feuer, einen Braten, Gemeinschaft, Feste, Götter, eine rudimentäre Sprache und Kunst in Form von Höhlenmalereien. Aber vielleicht hat ihnen das irgendwann nicht mehr ausgereicht, und sie mussten sich weiterentwickeln? Wahrscheinlich haben sie es sich nicht ausmalen können, was einmal aus ihnen werden würde. Und die Keule war schon immer da, Waffen zum Jagen und zum Töten.

Als Kind habe ich im Vorschulalter in Dänemark gewohnt, direkt an der Flensburger Förde. Eine alte Dame hatte uns ihr Haus zur Verfügung gestellt, bis das eigene Haus in Wassersleben fertig war, und war selbst in einen Anbau gezogen. Viele Jahre später kamen wir einmal im Schneesturm mit dem Flugzeug in Dänemark an, nach einem Weihnachtstaufenthalt in Teneriffa. Der Weiterweg war abgeschnitten. Und so nahmen dänische Familien deutsche und ausländische Touristen auf. Ich habe noch nie eine solche Gastfreundschaft erlebt, alles wurde geteilt. Und auch damals gab es schon dieses Ikea-Hygge-Ambiente. Ich bin mir nicht sicher, wie es heute wäre, dort in einer Sturmnacht anzukommen. Wahrscheinlich würden wir in einer beheizten Turnhalle übernachten, mit Matratzen auf dem Boden und einem großen Topf heißer Suppe.