Samstag, 27. August 2016

Einfach mal aus dem Fenster schauen

Umfragen scheinen wirklich in zu sein, und gestern hat meine Zeitung mal wieder eine gebracht. Ich lese sie gern, nicht, weil man zu jedem Thema eine Untersuchung machen könnte, um damit etwas zu "beweisen", sondern weil sie Trends anzeigen, die ich selbst beobachte. Den Freizeit-Monitor 2016 kann man sich herunterladen; ich fasse kurz zusammen, was ich da in der Papier-Zeitung gelesen habe. Bei allem Multi-Tasking und und bei aller Ich-Inszenierung deute sich in letzter Zeit ein neuer Trend an: einfach mal nur zu faulenzen. Was heißt denn das nun eigentlich? Faulenzen kommt laut Duden aus dem Ostmitteldeutschen und bedeutet: Faulig sein, übel riechen, sich dem Nichtstun hingeben [und dabei Dinge vernachlässigen, die man zu erledigen hätte], arbeitsscheu sein, sich dem Nichtstun hingeben, die Hände in den Schoß legen, nichts arbeiten/tun, untätig sein; (gehoben) auf der faulen Haut liegen, Daumen/Däumchen drehen, dem lieben Gott den Tag stehlen, die Zeit totschlagen, (Jugendsprache) chillen Die Wissenschaftler geben zu bedenken, dass das heutige hohe Tempo in der Arbeit und Freizeit nicht zu halten sei. In den 60 er Jahren hätte das "einfach mal aus dem Fenster schauen" einen hohen Stellenwert gehabt. Heute hält man jemanden, der stundenlang aus dem Fenster schaut, wahrscheinlich für spinnert oder depressiv. In der Freizeit seien In-Sportarten und Mediennutzung aller Art gefragt, immer etwas, über das man auch interessant in den Medien berichten kann. In den 60ern hätte es 30 Sportarten gegeben, heute sind es 400. Geht man heute essen, checkt man nebenbei noch seine Mails, seine Facebook-und anderen Kontakte, telefoniert und spielt Pokemon. Out sei, was einen langen Atem braucht, also so etwas wie malen, dichten, handarbeiten. Auch die echten sozialen Kontakte kämen zu kurz. Dabei sei die liebste Beschäfigung der Stichprobe, mit 70% Anteil, über wichtige Dinge zu reden! Die glücklichste Generation seien in den Augen der Forscher die Senioren, denn sie hätten noch gelernt, sich Zeit zu nehmen. Schon die Kinder würden in der Zeit, die ihnen die Schule lässt, verplant von Eltern, die wie Helikopter über ihren Häuptern schweben samt Anbieten von Chauffeurdiensten. Der geplagte Multifunktionierer verkomme zur Couch-Potato, die nur noch auf und an Geräten herumdaddelt. Man wolle jetzt Kontakte nicht mehr 2.0 auf dem Bidschirm haben, sondern im eigenen Wohnzimmer.

Ist das alles aber wirklich so? Und löst der arbeits-, freizeits- und mediengestresste Mensch sein Überforderungsproblem damit, dass er einfach mal aus dem Fenster schaut? Wahrscheinlich hätte er Schwierigkeiten, das in seinen Tagesablauf einzubauen. Persönlich empfehlenswert finde ich immer den Ansatz, nur wirklich wichtige Dinge an sich heranzulassen, unter anderem die, die getan werden müssen. Es gibt ja diesen Begriff des Abschaltens. Früher waren damit keine Geräte gemeint, sondern das innere Freimachen von Gedanken und Gefühlen und einfach nur zu sein. Ich gehöre zur angeblich glücklichen älteren Genration, die aber sehr wohl in das Medienzeitalter hineingewachsen ist. Fast alle Rentner, mit denen ich in diesem Jahr gesprochen habe, hatten viel weniger Zeit als vorher. Meist führten sie berufsähnliche Dinge weiter, von denen sie sich nicht lösen konnten. Das tue ich nicht, und trotzdem habe ich das Gefühl, noch weniger Zeit zu  haben als in den Jahren, in denen ich gearbeitet habe und eine Familie hatte. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich in den letzten Jahren
zwischen Beruf, Medien und Beziehung auch noch so viele Bücher schreiben konnte! Dabei entsprechen meine Freizeitinteressen durchaus denen mit dem  "langen Atem", taten sie schon immer. Zum Wandern, Reisen, Fotografieren, Lesen, Schreiben, Schwimmen und Kochen braucht man Zeit. Wenn man nebenher twittert, telefoniert oder sonstwie medienaffin agiert, verwischt sich das Ganze. Wenn ich koche und nebenher Mails schreibe oder chatte, brennt mir das Essen an. Ich glaube, dass man nichts wirklich Wichtiges aufgeben, sondern wieder das Nacheinander lernen muss. Zeit für Medien und Telefonate, Zeit für für die Arbeit (und dort nicht Pokemon spielen, das kann böse enden!), Zeit für Hobbies, für Verwandte, Freunde und sich selbst. Ausgewogenheit ist das Stichwort, es sollte kein Gebiet unter den Tisch fallen oder überhand nehmen. Und außerdem wichtig finde ich, dass man seinen Selbstwert nicht an der Zahl der Facebookfreunde, der Likes und sonstigen Rückmeldungen festmacht, sondern an der Stellung, die man sich insgesamt in der Welt geschaffen hat.