Sonntag, 29. März 2015

Psychische Krankheit und Suizid

Heute habe ich das erste Mal wieder Nachrichten gesehen, die nicht als erstes mit dem Ereignis vom vergangenen Dienstag begannen. Auch der Presseclub widmete sich bewusst einem anderen Thema, nämlich dem der "Maut". Inzwischen sind  Stimmen laut geworden, die von einer Vorverurteilung schon durch die französische Staatsanwaltschaft und dann quer Beet durch die Medien sprechen. Am Freitag habe ich zu einem Kollegen am Telefon gesagt: Es könnte ein zweischneidiges Schwert werden: Einmal könnte es die sowieso vorhandenen Vorurteile gegen psychisch Kranke verstärken, andererseits birgt es vielleicht die Chance auf zukünftige vermehrte Suizidprophylaxe. Man brauche jetzt keine Spekulationen mehr, sagte jemand im Fernsehen, erst müsse die Blackbox gefunden werden und es müssten die Ärzte sprechen. Gott sei es gedankt, dass auch einige Journalisten sich auf ihre humanitäre Sorgfaltspflicht besinnen: zum Beispiel in der FAZ von heute, Sonntag, den 29. März 2015. Neben schon bekannten Tatsachenberichten kommen auf den hinteren Seiten Psychiater wie Prof. Dr. Andreas Reif aus Würzburg und Prof. Dr. Harald Dressing vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim zu Wort, die in etwa ausdrücken, was ich die ganze Zeit gedacht hatte. In einem anderen Artikel habe ich aus dem Mund eines Arztes das Wort "Mitnahmesuizid"gelesen, was den vermuteten Tatsachen viel eher entspricht als "erweiterter Suizid".

Da ich -wie wahrscheinlich viele von uns - eine lebenslange Erfahrung mit suizidgefährdeten Menschen habe und das zudem aus professioneller Sicht sehe, möchte ich gern auf meine Art etwas dazu beitragen, mit Vorurteilen und Spekulationen aufzuräumen. Immer vorausgesetzt, die Vermutungen sollten sich bewahrheiten. Kürzlich hatte ich eine längere Emailkorrespondenz mit einer Autorenkollegin, die nach einem Suizid im Bekanntenkreis mehr über suizidale Handlungen wissen wollte. Dazu kramte ich meine schon etwas zerfledderte Diplomarbeit aus den 80er Jahren heraus und stellte fest, dass sich im Lauf der letzten Jahrzehnte nur an den äußeren Fakten etwas geändert hat, nicht aber an den Ursachen. So ist die Suizidrate in den letzten dreißig Jahren von 18 000 auf 10 000 im Jahr zurückgegangen, wahrscheinlich ist das auf zunehmende Aufklärung der Hausärzte und der Patienten zurückzuführen. Aber die Selbsttötung steht bei Jugendlichen, nach Unfällen und Aids, immer noch an dritter Stelle der Todesursachen! Die Veränderung der Kommunikation durch Handys und die sozialen Medien mögen eine größere Bandbreite an Kontakten ermöglichen, bergen aber auch die Gefahr der emotionalen Vereinsamung. Man soll ja immer gut drauf sein, Erfolge melden und Spaß haben. Wenn nicht, riskiert man, rausgeklickt zu werden. Sie bergen auch die Gefahr der Verstärkung der Symptome und des Rückzugs bei denen, die an Depressionen oder einer anderen psychischen Erkrankung wie einer Psychose, einer Borderline-Persönlichkeitsstörung oder einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Selbstmord ist fast immer, damals wie heute, der Endpunkt einer krankhaften psychischen Entwicklung. 10% mögen Bilanzselbstmorde sein. Und nach wie vor stehen Depressionen an erster Stelle aller psychischen Erkrankungen. Dabei wird nicht zwischen sogenannten endogenen und exogenen Depressionen unterschieden. Die Burnout-Erschöpfung scheint mir nach wie vor im Vormarsch zu sein. Das zeigt auch dieser Artikel aus Spiegel Online Wissenschaft, der die krankmachenden Arbeitsbedingungen in der Luftfahrt untersucht: Verdrängen, verleugnen, verschweigen. Das gilt natürlich nicht nur für die Luftfahrt, sondern auch für viele andere Bereiche.

Die Frage, die mich in den letzten Tagen am meisten umtrieb, war folgende: Wie kommt es, dass die nähere Umgebung nichts von dem gemerkt hat, was schließlich zur Katastrophe führen sollte? Und eine Katastophe wäre es auch, wenn es nicht beabsichtigt war, dann wäre schon der Gang zur Arbeit eine tödliche Fahrlässigigkeit gewesen. War es Angst um den Arbeitsplatz? Niemand hat etwas gemerkt, wenn jemand über eine Woche aus psychischen oder psychosomatischen Gründen krank geschrieben wird? Das ist für mich eine weitere Katastrophe und zeugt davon, dass den Menschen die Empathie mit dem Smartphone abhanden gekommen zu sein scheint. Wahre Empathie haben die Bewohner des Ortes Seyne-les-Alpes bewiesen, als sie den Angehörigen so selbstverständlich Hilfe anboten-wie Detlef Esslinger gestern in der Süddeutschen Zeitung bemerkte. Es gibt Hinweise auf drohende suizidale Handlungen. Wenn man genau hinschaut, kann man merken, wenn etwas mit dem anderen nicht stimmt. In der Apothekenumschau sind diese Hinweise sehr gut zusammengefasst. Und doch ist das unabhängig von der Schuldfrage zu sehen. Die Verantwortung liegt letztendlich beim Handelnden selbst.

In meinem professionellen Umfeld machen wir es so, dass wir Antisuizidverträge abschließen, wenn jemand äußert, er wolle Hand an sich legen. Kann er nicht versprechen, es nicht zu tun, müssen wir ihn in die Klinik bringen. Gern würde ich meine Erfahrungen und Kenntnisse weiterhin in die Öffentlichkeit bringen. Hier im Blog, aber vielleicht auch über örtliche Zeitungen, sobald ich mehr Zeit dafür haben werde. Und wenn mich jemand fragte, ob ich einen hilfreichen Satz für jemanden in dieser Situation hätte, würde ich sagen: Es gibt kein Problem, für das es keine Lösung gäbe. Und sei es auch nur, dass man die Sichtweise ändert, zum Beispiel: Ich muss nicht immer alles alleine schaffen, ich kann mir auch Hilfe holen. Und mein eigenes Motto: Es gibt ungeheuer viel zu versäumen, wenn man zu früh aufgibt.
Siehe auch: Wer depressiv ist, will anderen kein Leid antun.