Samstag, 17. Juli 2010

Sommerloch zum Letzten oder: Sex in der Wüste

Ich habe jetzt lange gezögert, meinen Lesern noch mehr Aufmerksamkeit abzuverlangen und ihnen auch noch eine Textpobe zum Lesen zu präsentieren. Ich selber schrecke sehr schnell zurück, wenn jemand in seinem Blog Textproben vorstellt. Es ist einfach zuviel, was man da zum Lesen bekommt! Auf der anderen Seite lebt jeder Autor von Aufmerksamkeit und Kommunikation. Nichts ist schlimmer, als wenn ich als Autorin durch die Welt gehe und niemand nimmt auch nur irgendeine Notiz von mir!
Man ist täglich eigentlich mindestens zwei Stunden damit beschäftigt, seinen Blog einigermaßen interessant zu gestalten und denen anderer und vielleicht auch noch einem Forum halbwegs zu folgen. Dabei bleibt das eigene Schreiben auf der Strecke. Aber das ist eine Ambivalenz: Man weicht damit dem Schreiben aus. Probiert sich, spielerisch. Ich stelle jetzt den Text ein, der von Hitzegraden und Familienkonflikten handelt, die eigentlich keine Science Fiction mehr sind, sondern geradezu schmerzhaft und hitzig Teil unserer gegenwärtigen Kultur. Auch wenn sich seit dem Jahr 2004 die Kommunikationsmöglichkeiten auf Familenmonitore in der Wohnung erweitert haben könnten, mit denen man kommuniziert ... Mit diesem Beitrag
möchte ich mich für ein paar Tage verabschieden.

Sex in der Wüste

Aus der Küche schlug mir die Hitze wie ein Gluthauch der Hölle entgegen. Niemand war zu sehen bis auf eine Kakerlake, die schnell unter dem Spültisch verschwand. Ich holte das aluverpackte Essen aus der Mikrowelle, schleppte mich schwitzend hinüber zu meinem Zimmer, stellte die Schale auf den Computertisch und riss die Verpackung auf. Ah, Königsberger Klopse mit Reis und Gemüse. Das hatte meine Mutter damals noch selbst gekocht; sie machte immer verschlagenes Eigelb dran und einen Schuss Weißwein. Ich klickte auf mein Postfach und passte auf, dass ich mich nicht mit der dicken, weißen Soße bekleckerte.
„Hi, Mom“, stand in der ersten Mail. „Was gibt’s bei dir heute zu essen?“
Ich schob mir ein Stück Klops in den Mund, bevor ich die Antwort schrieb.
„Hi, Sohnemann. Königsberger Klopse. Und wie sieht es bei euch aus?“
Vor dem Abschicken drückte ich auf „Allen antworten.“ Während ich wartete, trommelte ich mit den Fingern einen Wirbel auf den PC-Tisch.
„Bei mir gab’s Monsterburger und Pommes“,schrieb mein Sohn Thomas. „Wenn ich mit meinem Lehrer fertig gechattet habe, schau ich mir den Oldie - Film mit Humphrey Bogart und Lauren Bacell an.“
„Ich hab einen Salat aus dem Kühlfach gegessen.“ Das kam von meiner Tochter Erika.
„Im Kino oder im PC?“, schrieb ich an Thomas.
„Ihr mit euren Dickmachern.“, antwortete Erika. „Und immer sitzt ihr vorm Computer. Ich bin wenigstens in der Tanzstunde.“
„Im Puter“, ließ Thomas wissen.
„Du solltest zur Abwechslung mal die Küche putzen, Erika. Modell Mama hat ausgedient!“
Darauf kam keine Antwort mehr. Jetzt schrieb meine Mutter.
„Evelyn, ich muss doch sehr bitten. Könntest du nicht mal wieder selber kochen?“
„Mutter, du weißt doch ... ich habe einen dringenden Auftrag zu erledigen. Die Konkurrenz schläft nicht.“
Wieder trommelte ich mit den Fingern auf dem PC-Tisch herum. Da war die nächste Mail von meiner Mutter.
„Du arbeitest zu viel.“
Das Blut stieg mir in den Kopf.
„Du hast doch auch bis 75 gearbeitet“, hämmerte ich in die Tastatur. „Und dich liften lassen, damit du noch eine Stelle kriegst!“
Für eine Sekunde erhellte ein Blitz das Zimmer. Was war denn das? Gewitter hatte es schon seit Jahren nicht mehr gegeben, und Atombomben gehörten der Vergangenheit an.
„Einen Mann täte ich schon noch kriegen. Seit zehn Jahren schreiben mein Nachbar und ich uns Emails.“
„Ja, Mutti, hast ja Recht.“
„Den Garten solltest du dringend wässern!“
„Das Wasser ist seit langem rationiert, hast du das vergessen? Die Strafen sind immens hoch.“
„Ich muss mal.“
„Mutti, du drückst einfach auf den Knopf, auf den mit dem Pott. Dann erledigt sich das von selbst.“
Mein Blick fiel aus dem halb offenen Fenster in den Garten. Da standen Dattelpalmen, Zistrosen, Oleanderbüsche und Olivenbäume. Auf der Straße fuhr ein Junge mit blonder Elvis-Tolle auf einem Einrad vorbei. Die heiße Luft vibrierte über dem Beet mit den Atischocken und Auberginen. Außer dem durchdringenden Zirpen der Grillen war nichts zu hören.
„Hallo, Evelin.“ Das war Christian, mein Ehemann. „Ich zerfließe vor Hitze; konnte nichts essen. Erinnerst du dich noch an diese herrlichen Sommer, als das Thermometer selten über 35 Grad kletterte?“
„Ja, das waren noch Zeiten. Wann war das noch? 2005, glaube ich.“
„Also 20 Jahre her. Es kommt mir vor, als wären wir solange nicht miteinander im Bett gewesen. *g*.“
„Liebling“, gab ich zurück. „Erinnerst du dich an den Song ‚Sex in der Wüste’? ‚Jeder denkt das eine, doch dafür ist’s zu heiß.’Aber der nächste Winter kommt bestimmt.*fettgrins*“

Mein T-Shirt klebte mir am Rücken. Ich schaute abermals aus dem Fenster. Über dem Horizont hatten sich Blumenkohlwolken gebildet. Ein Grollen war in der Ferne zu hören. Tatsächlich ein Gewitter. Der Himmel hatte sich schwefelgelb verfärbt; mit hoher Geschwindigkeit strebten massige Wolken heran, tintenblau, erst allmählich, dann immer schneller ins Schwarze übergehend. Das Grollen wurde lauter, einzelne Blitze zuckten. Ein Wind erhob sich, schüttelte die Bäume im Garten, wurde stärker, peitschte Blätter und Staub durch die Luft. Es gab einen einzigen, überstarken, entsetzlichen Knall, der mir fast das Trommelfell platzen und das Haus in seinen Grundfesten erzittern ließ. Ein Geruch nach Schwefel zog durchs Haus. Die Maus reagierte nicht mehr, der Computer leuchtete gelborange, bevor das Bild gurgelnd in sich zusammenfiel. Draußen rauschte der Regen nieder. Thomas stürzte ins Zimmer. Seine kamelbraune Beatlemähne fiel ihm in die Stirn.
„Mom, mein Computer ist komplett abgestürzt!“
„Meiner auch. Komm schnell, wir müssen nach Oma sehen, die hat ein schwaches Herz.“
Wir stürzten zum Zimmer meiner Mutter und rissen die Tür auf. Omas Laptop lag stumm auf ihrem Bett, das von Überwachungsgeräten mit unzähligen Knöpfen und einem Hebekran umgeben war. Aus dem Bad hörte ich Stimmen. Mein Mann stand neben der Wanne, in die sich meine Mutter mit ihrem Rollstuhl geflüchtet hatte. Christian war eben dabei, den Duschhahn zuzudrehen. Der Seidenslip meiner Tochter Erika blitzte unter dem superkurzen, weißen Rock hervor, während sie die Beine der alten Dame mit einem lila Badetuch abtrocknete.
„Wieso musstest du jetzt duschen, Mutter?“, rief ich. „Du weißt doch, es ist bei Strafe ...“
Sie schüttelte ihre nassen Haare, die stellenweise grün gefärbt waren.
„Ich fühlte mich genauso vertrocknet wie die Pflanzen draußen“, sagte sie mit piepsiger Stimme.
„Du hättest mir doch eine Email schreiben können.“
„Das hätte mir zu lange gedauert“, murmelte meine Mutter. „Und überhaupt ...“
„Was überhaupt?“
„Ach, nichts.“
Ein Windstoß klatschte den Regen gegen die Fensterscheiben; er prasselte mit solcher Gewalt herunter, dass die Palmen sich bogen wie wildgewordene Staubwedel. Blätter wirbelten durch die Luft.
„Mir hängt das alles ...“, begann meine Mutter und brach ab. Sie nahm ihren Bademantel vom Wannenrand, wickelte sich hinein, setzte ihren Rollstuhl in Gang, fuhr über die eingebaute Rampe aus der Badewanne heraus und rollte in ihr Zimmer. Wir folgten ihr stumm, unfähig, einen Finger zu rühren.
„Oma“, sagte Erika und versuchte den Rollstuhl festzuhalten. „Wo willst du hin?“
Meine Mutter öffnete die Tür zur Terrasse und fuhr in das nasse Inferno hinein.
„Mutter“, schrie ich verzweifelt, „Wo willst du hin?“
Thomas legte seine Hand auf meinen Arm.
„Lass sie, Mom“, meinte er.
Meine Mutter war innerhalb von Sekunden klitschnass. Das Wasser lief in Bächen von ihren Haaren, ihren Schultern und dem Rollstuhl herab. Unter den immer wieder aufzuckenden Blitzen, den Donnerschlägen hindurch, von herumfliegenden Zweigen und Blättern getroffen, fuhr sie die Garageneinfahrt hinab, auf den Gehweg der Straße und in das Grundstück des Nachbarn hinein.

©Christa Schmid-Lotz, 2004