Mittwoch, 10. Dezember 2008

Eine Weihnachtsgeschichte

Und da nun der Schnee wieder leise rieselt und das wenige Geld der Deutschen in den Kassen der Geschäfte klingelt, mal was anderes. Eine Weihnachtsgeschichte aus den Anfängen der Schreibwerkstatt.

Die Weihnachtsfeier

Das Fest nahte mal wieder mit der ihm eigenen Unerbittlichkeit. Die wenigen Schwestern des Krankenhauses waren diesmal nicht bereit, auf ihre freien Tage zu verzichten. Nur Marlene dachte an die Jahre zuvor, in denen sie allein in ihrer Wohnung saß und Würstchen mit Kartoffelsalat verzehrte. Deshalb trug sie sich schon Anfang Dezember für den Dienst am Heiligen Abend ein. Sie nahm sich vor, ihren Patientinnen ein unvergessliches Fest zu bereiten. Eigenhändig goss sie Kerzen aus Bienenwachs, bastelte Strohsterne und Ketten aus rotem Stanniol, vergoldete Nüsse und besorgte einen großartigen Weihnachtsbaum, eine Edeltanne mit weichen, glänzenden Nadeln. Von den dankbaren Augen der Patientinnen ihrer Station begleitet, schmückte sie den Baum. Auf jeden Nachttisch stellte sie eine Schale mit selbstgebackenen Plätzchen. Die Hauswirtschaft wies sie an, ein besonders festliches Menü zu kochen: Avocadocremesuppe mit Krabben, Babarie -Entenbrust, gratinierte Kartoffeln, Wirsingschaum, Sorbets von Mango und Anananas.

Der Heilige Abend war gekommen. Marlene hatte alles bis ins Detail vorbereitet.
„So, meine Damen, jetzt geht’s los!“, sagte sie feierlich in die Runde und stellte sich vor den Weihnachtsbaum, der ihr schöner erschien als alle, die sie je gesehen hatte. Sie zückte ihr Feuerzeug und zündete eine Kerze nach der anderen an. Es begann honigsüß zu duften. Schließlich war der Raum in warmes Gold getaucht. Marlene schaute dankbar in die leise knisternden Flammen.
„Melanie, dein Auftritt“, wandte sie sich an ihre Nichte, die sie als Glanzpunkt dieses Abends engagiert hatte. Melanie stellte sich lächelnd vor den Baum und begann:

„Wo die Wege am dichtesten hangen ...“
„Wo die Zweige am dichtesten hangen“, raunte Marlene ihr zu.
„Wo die Zweige am tiefsten verschneit,
da ist um die Christkindszeit
im Walde ein Engel gegangen ...“
Da stimmt doch was nicht, dachte Marlene. Die Mundwinkel ihrer Nichte zuckten, als würde sie gleich in ein unkontrolliertes Lachen ausbrechen. Marlenes Knie wurden weich. Was ging bloß schief heute Abend?
„Wann gibt es denn endlich was zu E s s e n?“ schrie eine Stimme aus der Ecke, in der die Frauen mit den Bandscheibenvorfällen lagen.
„Wir haben H u n g e r !“, tönte es von allen Seiten.
„Einen Moment“, versuchte Marlene die Situation zu retten, „erst müssen noch die Geschenke verteilt werden“. Mit nun schon etwas schiefem Lächeln ging sie von Bett zu Bett und verteilte die Gaben. Es waren kleine Spieluhren, mit viel Liebe ausgesucht. Die Dame aus der Bandscheibenecke grunzte:
„Was soll ich denn mit diesem Staubfänger? Sorgen Sie lieber dafür, dass meine Bandscheiben wieder funktionieren. Das war jetzt schon die dritte Operation!“
Aus der anderen Ecke kam die Antwort:„Ach, halts Maul, alte Jammerliese! Sei froh, dass du so was überhaupt erleben darfst. Was soll ich denn sagen? Mir haben sie einen faustgroßen Tumor aus dem Kopf geholt.“
„Also, wenn ich so was hätte, täte ich mich gleich aufhängen!“
Die beiden Kontrahentinnen kochten aneinander hoch, während die anderen Frauen sich ängstlich in ihre Decken verkrochen. Nervös kaute Marlene an ihrer Unterlippe. Dann kam ihr der rettende Gedanke: das Festessen! Ein Knopfdruck an der Gegensprechanlage. Und schon marschierten sie herein: an der Spitze der dicke Koch mit einer Kaskade brennender Wunderkerzen, dahinter die Küchenfeen, Silberplatten mit Suppe, dampfenden Entenbrüsten, schäumendem Wirsing und goldgelb überkrustetem Gratin über dem Kopf balancierend.
„Schwester Marlene, ich m u s s mal!“ „Ich auch!“ „Ich h a b e schon, konnte es nicht mehr zurückhalten, huhuhuh.“ Ohne eine Miene zu verziehen, trug Marlene die Bettpfannen hinaus. Schon in der Tür, glaubte sie ihren Ohren nicht zu trauen:
„Was haben d i e sich bloß wieder ausgedacht? Gibt es hier denn kein anständiges Schnitzel?“
Als sie wieder hereinkam, stocherten alle lustlos in ihrem Essen; das Küchenpersonal war verschwunden. Melanie schaute leicht bedeppert vor sich hin. Marlene entfuhr ein abgrundtiefer Seufzer. Die Frau mit der Bandscheibe kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und sagte drohend: „Haben Sie gerade „Blöde Kuh“ zu mir gesagt?“ Marlene fühlte den Impuls zu schreien, presste die Hände an die Ohren und sah mit schreckgeweiteten Augen, wie die Tür zum Krankenzimmer aufgerissen wurde und der diensthabende Arzt hereinstürmte.
„Das glaube ich ja nicht, was ich da sehe“, brüllte er mit sich überschlagender Stimme. „Wissen Sie nicht, dass offenes Feuer im Krankenhaus verboten ist? Wollen Sie das ganze Haus abfackeln?“
„Ich wollte doch nur ...“, stammelte Marlene, doch sie wurde unterbrochen.
„Und was haben Sie für unsere Bandscheiben und Tumore für ein Essen zusammengemurkst? Die Hälfte von ihnen ist auf Diät gesetzt!“
„Herr Doktor, Herr Doktor, ich will ein Schnitzel!"
"Würstchen mit Kartoffelsalat", röhrte eine andere und begann, auf ihr Bettgestell zu trommeln.
„Herr Doktor, unter meinem Verband juckt es so. Können Sie ihn mir nicht wechseln?“
„Ich will hier raus, ich will nach Hause!“, dröhnte es an Marlenes Ohr. Sie schnappte sich ihre Nichte und flüchtete ins Nachtwachenzimmer.
„Das wird ein übles Nachspiel für Sie haben!“, hörte sie den Arzt schreien. Das Trommeln wurde ohrenbetäubend. Im Raum angekommen, ließ Marlene sich auf einen Stuhl sinken. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Melanie schaute sie wie vom Donner gerührt an. Doch nein, ihre Mundwinkel zuckten verdächtig; sie begann zu glucksen. Plötzlich brachen beide in ein befreiendes Gelächter aus. Zwischen Lachen und Weinen stieß Marlene hervor:
„Was bin ich doch für ein verdammtes Rindvieh!“

In den nächsten Tagen hatte Marlene frei. Sie saß in ihrer Einzimmerwohnung, schaute hinaus auf den Friedhof und den dunklen Saum des Waldes in der Ferne. Nebel waberten um die Grabsteine, und allmählich begannen kleine, weiche Flocken herabzuschweben und den Boden mit einer weißen Schicht zu bedecken. Friedhofskälte. Ein Leben, erstarrt wie ein See unter einer Eisdecke, dachte Marlene. So kann es nicht weitergehen. Ich gebe alles, und die anderen wollen es gar nicht haben. Ich muss etwas ganz anderes machen. Aber was?
Sie rief ihre Nichte Melanie an.
„Melanie, ich will raus aus dieser Mühle“, sagte sie. „hast du irgendeine Idee?“
Melanie überlegte.
„Schreib doch Geschichten über das, was du erlebt hast“, meinte sie.
„Was gibt es über mich schon zu schreiben? Ein Durchschnittsleben.“
„Das sind oft die spannendsten Geschichten“, meinte Melanie.
Marlene dachte lange darüber nach, während der ganzen Feiertage. In der Silvesternacht trat sie auf ihren Balkon, schaute den roten, gelben und grünen Blitzen zu, den Sternen, den riesigen Feuertropfen, die vom Himmel fielen, hörte das Knallen, Krachen, Bersten und Heulen – und mit einem Mal wusste sie, was sie zu tun hatte.
Im neuen Jahr kündigte sie, erstritt vor Gericht eine größere Abfindung und schrieb einen Arztroman. Er fand reißenden Absatz. Ein paar Jahre später hatte sie sich mit ihren Büchern eine goldene Nase verdient. Sie genoss das neue Leben in vollen Zügen und lernte viele interessante Menschen kennen. Wenn sie nicht schrieb, reiste sie im ICE erster Klasse durch Deutschland und Europa. Wollte jemand wissen, wie sie die Weihnachtstage verbrachte, antwortete sie:
„Ich fliege nach Teneriffa und gehe unter Drachenbäumen spazieren. Oder ich fahre mit meinen Freunden auf eine verschneite Berghütte, zünde Honigwachskerzen an und genieße festliche Menüs.“

© Christa Schmid - Lotz, November 2005