Sonntag, 24. Februar 2019

Vom Sterben der Dörfer

Das beste Buch, das ich in der letzten Zeit gelesen habe, war die "Mittagsstunde" von Dörte Hansen. Es handelt vom langsamen Verfall eines Dorfes und seiner Bewohner, von Schuld, Versöhnungswillen, dem Nachhall von rauschenden Festen und einer unzerstörten Natur, die mit dem Erscheinen der Landvermesser in den 60er, 70er Jahren ebenfalls der Zerstörung anheimfiel. Vom Leben der Bauern und Wirte, der Verstrickung von Familien und dem "bisschen Mensch", der einer unzerstörbaren alten Welt entgegensteht.

Danach konnte ich erst mal kein anderes Buch mehr in die Hand nehmen, vor allem wegen der Sprachgewalt der Autorin, wegen der Metaphern, die mich vollkommen in den Bann geschlagen haben und wegen der Brandaktualität der Geschichte. Ich selbst beobachte ja schon seit Einführung des Euro im Jahr 2002, wie die Gastwirtschaften den Berg hinab gegangen sind. Anders als in Bayern, wo man heute noch fast überall in den Biergärten seinen Schweinsbraten und seine Brotzeit bekommt, muss man hier im Schwarzwald, im Neckartal und auf der schwäbischen Alb lange suchen, bis man etwas halbwegs Genießbares zu vernünftigen Preisen bekommt. In den 80er Jahren konnte man zum Beispiel von Nagold nach Tübingen fahren und hat in jeder Dorfwirtschaft ein paniertes Schnitzel mit Pommes bekommen. Auch wenn die Soße wahrscheinlich aus der Tüte war, vermisse ich das heute sehr. Wir müssen oft auf die Italiener und Chinesen ausweichen. Die Dörfer und kleineren Städte verödeten immer mehr, es gab immer weniger Einkaufsläden, die Wirtschaften haben nur noch an bestimmten Tagen geöffnet, und das dann nur für den Gesangverein. Dörte Hansen hat das in ihrem Buch sehr gut erklärt. Die Alten kommen kaum noch zu den Stammtischen s oder trauen sich bei den Extremwettern (und wegen der Kriminalität) nicht mehr aus dem Haus. Die Väter der jungen Familien, die von der Stadt aufs Land gezogen sind, gehen mit ihren Sprösslingen tagsüber ins Schwimmbad und abends nicht mehr in die Kneipe. Von daher werden die lieblos hochgezogenen Siedlungen um die Dörfer herum und die Supermärkte, die eilig für sie hingeknallt werden, auch nicht zur Wiederbelebung der Dörfer und kleinen Städte beitragen. Im Bayernfernsehen sah ich heute einen Bericht über verwaiste Plätze mit Holzbänken ohne Lehnen, auf denen niemand sitzt, und Schirmakazien zum Schattenspenden, an denen Landfrauen eilig vorüber radeln. Die neu geschaffenen Dorfläden schreiben rote Zahlen, weil es im Discounter billiger ist. Doch es gibt Ansätze, die Probleme anders zu lösen. Zum Beispiel, alte Gebäude nicht abzureißen, sondern zu sanieren und damit Wohn- oder Raum für kulturelle Aktivitäten zu schaffen. Eine Gemeinde in Bayern hat ein Kloster gekauft und will ein Bildungszentrum einrichten - was dem Ort wieder mehr Attraktivität verleihen soll.
Hier ein Video zu den neuen Ortsmitten in Bayern:
https://www.br.de/mediathek/video/unter-unserem-himmel-neue-ortsmitten-in-bayern-av:5c3f10ca7de1420018a72708

Auch viele alte Schwarzwaldbäder bieten einen traurigen Anblick. Einige wie Bad Wildbad haben Glück. Die Rossini-Festspiele und das Thermalbad hätten es nicht mehr retten können. Die haben jetzt ihre Hängebrücke und den neuen Freizeitpark oben auf dem Sommerberg. Es gibt auch Städtchen, die allein ihrer wertvollen historischen Substanz wegen nicht verbaut und von Industrieanlagen umzingelt werden. Rothenburg, Dinkelsbühl und Stein am Rhein zum Beispiel, Letzteres haben wir kürzlich besucht. Dort herrschte am Abend nach Abzug der Touristen eine lockere, entspannte Stimmung, die Fahrt durch das Stückchen Schweiz war ein Hochgenuss an unverbauter, unversiegelter und nicht von Autos plattgefahrener Landschaft.